Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 28. Mai 1923
Die ärztliche Fürsorgestelle der Stadt Wald berichtet über den schlechten allgemeinen Gesundheitszustand eines großen Anteils der Kinder.
Aus dem Landkreise Solingen.
Wald, 26. Mai. Ueber die Tätigkeit der ärztlichen Fürsorge-
stelle der Stadt Wald wird uns amtlich geschrieben: Die ärzliche [sic!]
Fürsorgestelle der Stadt Wald wurde im vergangenen Jahre trotz
provisorischer Unterbringung in wenig geeigneten Räumen stark be-
ansprucht, da der allgemeine Gesundheitszustand weiterer Kreise der
Bevölkerung nach vorübergehender leichter Besserung sich bereits
wieder verschlechtert. In ärztlicher Fürsorge befanden sich 254 Säug-
linge und 45 Kleinkinder, die in der Mütterberatungsstunde untersucht
wurden, mit 1295 Einzelberatungen an Säuglingen und 120 an Klein-
kindern – 1415 ärztliche Beratungen an Kindern unter 6 Jahren.
Von den 254 Säuglingen wurden 152 erfreulicherweise mit Muttermilch
genährt, 60 Kinder bekamen Zweimilchernährung und 42 blos Flasche.
65 Kinder litten an Ernährungsstörung, nur 12 an engl[ischer] Krankheit,
die ja bei sachgemäßer Pflege und Ernährung vollständig zu vermeiden
ist und bei den regelmäßig vorgestellten Kindern, deren Mütter alle
Ratschläge befolgten, auch nicht nachzuweisen war. 13 Kinder litten
an angeborener Geschlechtskrankheit, eine bedauerlich hohe Zahl,
25 Kinder an Hautausschlag. In ärztliche Behandlung wurden 110
Kinder überwiesen. Die Gesamtzahl der im Schuljahr 1922-23 unter-
suchten Schulkinder belief sich auf 3140 Kinder. 1673 wurden in
genauen Einzeluntersuchungen vorgenommen, davon hatten nur 19,8%
ein normales, der Länge entsprechendes Gewicht, 69,2% ein mehr oder
weniger starkes Untergewicht, 11,0% hatten Uebergewicht, 20,9%
zeigten eine starke Unterlänge. Interessant sind die Unterschiede in
den einzeln untersuchten Jahrgängen. So hatten von den 1923 zur
Entlassung kommenden Schülern 60% von den untersuchten Mittel-
klassen bereits 70,9% von den untersuchten Schulneulingen sogar 75%
Untergewicht, während die Zahl der übergewichtigen Kinder im um-
gekehrten Verhältnis: 21,7% für die Schulentlassenen, 8,9% für die
Mittelklassen und nur 2,5% für die Schulneulinge betrug. Diese
zunehmende Verschlechterung der jüngeren Jahrgänge zeigt, daß unsere
Kinder um so stärker gelitten haben, je jünger sie von den Kriegsschäden
und -folgen betroffen wurden; besonders das Fehlen von Milch, für das
Kleinkind durch nichts zu ersetzendes Nahrungsmittel, hat diese im späteren
Alter kaum wieder gut zu machende Entwicklungshemmung verschuldet, und
es ist eine selbstverständliche Lehre, die aus diesen allgemein gemachten
Erfahrungen gezogen werden muß, daß bei zukünftigen Schwierigkeiten
der Milchversorgung das Säuglings- und Kleinkindesalter bis zu 6
Jahren vorzugsweise regelmäßig beliefert werden muß, wenn auch
nur in kleineren Mengen, vor der Milchversorgung kranker Erwachsener,
die sich meistens auch mit anderen Nahrungsmittel [sic!] behelfen können,
wenn wir nicht ganze, zukünftige Generationen auf´s Spiel setzen wollen.
Unter den einzeln untersuchten Schulkindern wiesen 2,9% Zeichen von
tuberkulösen Krankheitsprozessen auf, 7,2% Zeichen von Nervosität, 10,8%
deutliche Blutarmut, 34,9% waren Rückenschwächlinge mit abstehenden
Schulterblättern, 18,1% hatten seitliche Verbiegung der Wirbelsäule,
die Hälfte dieser Fälle beides [sic!] Nasen- und Rachenwucherungen wurden
in 37 Fällen, Sehststörungen in 160 Fällen, Hörstörungen in 67 Fällen
festgestellt. In Reihenuntersuchungen wurden 1467 Kinder durchgesehen.
37,2% waren als mittel, 12,9% als schwächlich oder schlecht, 49,4%
als gut oder befriedigend zu bezeichnen. Unter diesen befanden sich
11,4% nervöse, 19,1% blutarme Kinder, 22,2% hatten runden Rücken
und abstehende Schulterblätter, 21,6% seitliche Verbiegung, die Mehr-
zahl dieser Fälle beides. 1,5% der reihenuntersuchten Kinder hatten
fortschreitende tuberkulöse Krankheitsprozesse, doch ist die Zahl der mit
Tuberkulose angestellten Kinder, die noch keine Krankheitssymtome [sic!]
aufweisen, viel höher anzusetzen. So erwiesen sich von 205 auf
Anstellung mit Tuberkulose untersuchten Kindern 95 als tatsächlich
bereits angestellt. 84 mit tuberkulöse Prozesse behafteten Schul-
kinder wurden in Tuberkulosefürsorgen übernommen. Zu dauernd
ärztlicher Ueberwachung standen in vierteljährlicher Nachuntersuchung
334 Schulkinder. In den Beratungsstunden für Tuberkulose und
Lungenkranke wurden 177 Personen untersucht, von denen 118 sich
als tuberkulös erwiesen. In 48 Fällen wurde eine Röntgenaufnahme
veranlaßt. 22 Personen wurden in ärztliche Behandlungen überwiesen,
44 in Heilstätten, 10 in Krankenhäuser, 2 in Invalidenheime, 33 in
Erholungsstätten, 1 in’s Seebad, 5 in Solbäder; die letzten 38 be-
treffen nur Kinder. 37 Kinder wurden zu mehrmonatigen Erholungs-
aufenthalt nach Pommern entsandt, während 400 Kinder an der
Quäckerspeisung teilnahmen. In der Kriegsfürsorge wurden 220 Kin-
der untersucht und hiervon 61 Kinder der Kriegerwitwen und Kriegs-
beschädigten ausgesandt: und zwar in’s Solbad 23 Kinder, in Heil-
stätten 3 Kinder, 23 zum Landaufenthalt und 12 Kinder in ein See-
bad. In Verfolg des preußischen Krüppelfürsorgegesetzes wurden 102
unter 18 Jahre der neueingerichteten Krüppelfürsorgestelle Wald ge-
meldet, von denen 72 einer spezialärztlichen Behandlung überwiesen
wurden. In Trinkerfürsorge befanden sich 5 Personen. Durch Ver-
mittlung der Fürsorge wurden 6 vom Vaterländischen Frauenverein
ausgestattete Wanderkörbe auf die Dauer von 4–6 Wochen an be-
dürftige Wöchnerinnen ausgeliehen; außerdem stelle das Jugendamt
10 eingerichtete Säuglingskörbe zur Verfügung, welche an bedürftige
Mütter für die Zeit von 8–9 Monaten ausgeliehen werden. Die
ungeheure Arbeit und Aufgabe der Fürsorgestelle konnte nur bewäl-
tigt werden durch die aufopfernde Mitarbeit zweier ehrenamtlicher
Kräfte, Fräulein Lotte Merx und Fräulein Herta Morsbach, die
dem Arzt und der Fürsorgerin nicht nur in den Mütterberatungen,
sondern auch bei Schuluntersuchungen, Sprechstunden usw. zur Seite
standen. Die Verlegung der Fürsorgestelle in dazu geeignete, im Erd-
geschoß gelegene Räumlichkeiten wird mit dazu beitragen, die unge-
heuren Aufgaben, die die Not der Zeit einer modern systematisch ar-
beitenden ärztlichen Fürsorge stellt zu lösen nach ihrem Grundsatz
„Vorbeugen ist besser als Heilen.“
Wenn Sie sich die vollständige Ausgabe des Solinger Tageblatts ansehen möchten, klicken Sie auf den Link: Solinger Tageblatt 28. Mai 1923
OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Stadtarchiv Solingen: RK (28. Mai 2023). 28. Mai 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 15. November 2025 von https://doi.org/10.58079/ae5q
