Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 26. Mai 1923
Aufruhr im Ruhrgebiet: „Dem Aufruhr der Lohnempfänger ging ein Aufruhr in der Preisgestaltung voran. Ungeachtet aller Regierungsmaßnahmen folgten die Preise dem Sturz der Mark auf dem Fuße. Wenn das innerlich berechtigt und nicht zu vermeiden war, wäre eine Angleichung der Löhne eine Selbstverständlichkeit gewesen.“
Wirtschaftlicher Teil.
–
Aufruhr.
Die leider nicht unblutig gebliebene, groß angelegte Teue-
rungsaktion der Kommunisten im Ruhrgebiet, die allem An-
schein nach noch weitere Kreise ziehen will, hat die Aufmerk-
samkeit der breitesten Oeffentlichkeit auf sich gezogen und ein all-
gemeines Aufhorchen im Gefolge gehabt. So sehr das Unter-
nehmen aus außenpolitischen Gründen zu bedauern und zu ver-
urteilen ist, so müssen wir doch bestrebt sein, die ursprüngliche
Triebfeder der Aktion klar zu erkennen, und die politisch und
wirtschaftlich auf der anderen Seite Stehenden müssen sich
Rechenschaft darüber ablegen, ob nicht auch sie einen Teil Schuld
an diesem Unternehmen haben. Wir glauben mit ehrlicher Ue-
berzeugung der Meinung Ausdruck geben zu können, daß die
eigentliche Ursache des kommunistischen Aufruhrs nicht poli-
tischer, sondern wirtschaftlicher Natur ist. Nur eine auf kärg-
liche Lebenshaltung angewiesene Masse kommt, besonders in
dem friedfertigen und wenig verwöhnten Deutschland, auf den
Gedanken, durch Putschunternehmungen die politische Macht
und damit auch einen Einfluß auf die Lebenshaltung der ar-
beitenden Bevölkerung zu erkämpfen. Durch diese Ueberlegun-
gen kommen wir zu der Frage, ob die Lohngestaltung der letzten
Monate, besonders aber der letzten Wochen der stürmischen
Preisbewegung in einem annehmbaren Verhältnis gefolgt ist.
Bei einem Vergleich der Februarlöhne mit den heute gezahlten
können wir nicht umhin, festzustellen, daß das nicht der Fall
ist. Denn bei einer Steigerung des Dollarkurses und auch der
Lebensmittelpreise bis auf das Doppelte, teilweise (z. B. Fleisch,
Butter und Fett!) bis auf das Dreifache, ist eine wesentliche Er-
höhung der Löhne und Gehälter bisher nicht eingetreten, und
der Nahrungsmittelspielraum für die meisten Lohn- und Gehalts-
empfänger ist allmählich so knapp geworden, daß er auf den
5. Teil des Friedensstandes und noch darunter gesunken ist.
Trotzdem wirkt die hier schon behandelte Lohnstabilisierungs-
parole der Regierung heute noch nach, und auch die Industrie
legt einen Widerstand gegen eine Lohnerhöhung an den Tag,
der in diesem Ausmaße kaum noch verständlich ist. Bei dieser
Sachlage ist das Entstehen eines Brandherdes im Grunde ge-
nommen gar nicht zu verwundern, und es ist die höchste Zeit,
dafür zu sorgen, daß in der Einstellung der Arbeitnehmerschaft,
die die Regierung bisher nach besten Kräften und unter großen
persönlichen Opfern unterstützt hat, nicht ein Frontwechsel ein-
tritt, der politisch und wirtschaftlich verhängnisvoll werden
könnte.
Dem Aufruhr der Lohnempfänger ging ein Aufruhr in der
Preisgestaltung voran. Ungeachtet aller Regierungsmaßnahmen
folgten die Preise dem Sturz der Mark auf dem Fuße. Wenn
das innerlich berechtigt und nicht zu vermeiden war, wäre eine
Angleichung der Löhne eine Selbstverständlichkeit gewesen. Wenn
es nicht berechtigt war, mußte die Preisrevolution vermieden
werden. Jedenfalls ermöglicht die Angleichung der Preise den
Wirtschaftskreisen nach vernünftigen wirtschaftlichen Ueberlegun-
gen auch ein entsprechendes Entgegenkommen in der Lohnfrage.
Andernfalls sähe man sich gezwungen, festzustellen, daß die kauf-
männische Kalkulation auf eine Geleise geraten ist, die mit den
natürlichen Wirtschaftsgesetzen nicht mehr in Einklang gebracht
werden kann und einer Revision dringend bedarf. 10 000 fache
Preise und im Höchstfalle 2 ½–3000fache Löhne sind ein Zu-
stand, der nicht aufrecht erhalten werden kann und der, wie die
entsprechenden Zahlen in Oesterreich lehren, auch durchaus nicht
notwendig ist. Anders lägen die Dinge noch, wenn Aussicht
vorhanden wäre, in absehbarer Zeit die Währung wieder zu
heben und die Preise wesentlich herabzudrücken. Wenn man
aber die seit Beginn des Jahres eingetretene Vermehrung des
Notenumlaufes um nahezu das 10fache unter gleichzeitiger Ab-
nahme des Goldbestandes der Reichsbank um fast 25 Prozent
in Betracht zieht, dann ist an eine solche Entwicklung auch nicht
im entferntesten zu denken. Es müßte bereits als außerodent-
lich günstig angesehen werden, wenn es der Reichsbank durch
eine – scheinbar geplante – neue Intervention gelingen könnte,
einen Dollarkurs von 400 000, aber auf der Basis einer 10 000-
fachen Markentwertung zu halten. Ob das erreicht werden kann,
steht dahin. Jedenfalls versprechen wir uns von der groß an-
gekündigten Untersuchung über die Ursachen des Marksturzes
nichts. Sie dürfte lediglich historischen Wert haben und Ge-
legenheit zu unnützen Enthüllungen bieten. Es ist Zeit, daß
unsere Regierung innen- und außenpolitisch endlich einen klaren
Kurs einschlägt und beides miteinander in Einklang bringt.
Sonst wird niemand imstande sein, zu verhindern, daß dem
ersten Aufruhr Nachfolger erwachsen. Videant consules! H.
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Videant consules! = Lateinisches Sprichwort. Bedeutung im obigen Kontext: Die Regierung sollte dafür sorgen, dass der Staat keinen Schaden nimmt.
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Stadtarchiv Solingen: RK (26. Mai 2023). 26. Mai 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 8. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/ae52