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Quelle: Stadtarchiv Solingen, Akte Höhscheid H 3377, Schreiben 14. Dezember 1923
Wie der Walder Bürgermeister am 27. November 1923 in seinem „Notschrei“, so berichtet nun auch der Höhscheider Bürgermeister Hugo Pohlig der britischen Besatzungsmacht über die katastrophale wirtschaftliche und finanzielle Lage seiner Gemeinde.
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Sofort! H[öhscheid] 14/12. 23.
1) An
die britische Besatzungsbehörde,
z[u] H[än]d[en] des Herrn Kreisdelegierten,
in
Ohligs.
Die wirtschaftlichen und finanziellen Verhält-
nisse der Gemeinde Höhscheid, die schon seit Mo-
naten die denkbar ungünstigsten waren, haben sich
in den letzten Wochen in einer Weise verschlechtert,
daß sie sich in allerkürzester Zeit zu einer
Katastrophe auswachsen werden, wenn der Ge-
meinde nicht sofort und wirksame Hilfe zu Teil
wird. Die Ursachen dieser Entwickelung sind
allgemein bekannt, sodaß ich es mir versagen
kann, näher darauf einzugehen. Über ihre Rück-
wirkungen auf die hiesige Gemeinde gestatte
ich mir im Anschluß an die mündliche Unter-
redung vom 3. d[iese]s M[ona]ts folgendes anzuführen.
Höhscheid hat rund 16000 Einwohner, die sich
zu 90% aus Arbeitern und Angestellten der
Solinger Stahlwarenindustrie zusammensetzen.
Diese sind zu etwa 1/4 in Höhscheid, im übrigen
in den benachbarten Gemeinden (Solingen, Wald
Ohligs) in Fabrikbetrieben oder als Heimarbeiter
in eigenen Werkstätten für Unternehmungen
in diesen Gemeinden tätig. Ihre Eigenschaft als
sog[enannte] Arbeiterwohnsitzgemeinde hat für Höhscheid
zur Folge geringe Steuerkraft auf der einen
und starke Belastung, namentlich auf dem
Gebiete des Schulwesens und der Wohlfahrtspflege
auf der andern Seite. Als vor Monaten der
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Ruhreinbruch die Solinger Industrie fast völlig
zum Erliegen brachte, machte sich dies in besonderem
Maße in Höhscheid bemerkbar. Die Zahl der Er-
werbslosen erreichte eine Höhe wie nie zuvor.
Sie betrug in der Woche vom 19.-24. November d[iese]s
J[ahre]s einschließlich der Frauen und Kinder 4629.
29 % der Gesamtbevölkerung. In der letzten Woche
ist zwar ein Rückgang in der Zahl der Erwerbs-
losen zu verzeichnen gewesen, der aber mit
hoher Wahrscheinlichkeit nach Weihnachten einer wei-
teren Zunahme Platz machen wird. Die vom
Reich festgesetzten Unterstützungssätze sind so
gering – es erhalten z[ur] Z[ei]t Ledige unter 21 Jahren
wöchentlich 2 Billionen M[ark], Ledige über 21 Jahre
4,6 Billionen M, Verheiratete (Mann und Frau),
6 Billionen M, dazu für jedes Kind 1 Billion
M – daß davon nicht einmal die notwendigsten
Lebensbedürfnisse bestritten werden können.
Infolgedessen muß die gemeindliche Wohlfahrts-
pflege durch Gewährung von Zusatzunterstützung
(z. Zt. 40 %) durch Verabreichung von Lebensmitteln,
Kleidung, Schuhen, Wäsche, Brennstoffen in erheb-
lichem Umfange für sie eintreten. Auch zur
Zahlung der Wohnungsmiete, der anteiligen
Grund- und Gebäudesteuer, des Wassergeldes, der
Kosten der Beleuchtung usw. sind die Erwerbslosen,
die zum größten Teil schon seit 6 Monaten
außer Arbeit sind, nicht mehr in der Lage, sodaß
die Gemeinde auch diese Ausgaben übernehmen
muß. Neben den Erwerbslosen sind 511 Kurz-
arbeiter – mit Familienangehörigen rund 2000
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Personen – je nach dem Arbeitsausfall zu unter-
stützen. Vollständig zu unterhalten sind ferner
275 Armenpfleglinge, in Anstalten sind auf
Kosten der Gemeinde untergebracht 52 Personen,
in Krankenhäusern 20. Weiterhin werden unter-
stützt 300 Sozial- und Kleinrentner, 350 Kriegs-
beschädigte und -hinterbliebene und 15 Personen,
die von der Krüppelfürsorge erfaßt sind. End-
lich werden noch rund 1000 Personen vorüber-
gehend unterstützt, die durch die Erwerbslosig-
keit in ihrer Existenz mehr oder weniger ge-
schädigt bezw. stellenlos geworden sind. Insge-
samt sind also rund 8600 Personen, das sind
mehr als die Hälfte der Gesamteinwohnerschaft,
auf die Fürsorge der Gemeinde angewiesen.
Die Aufwendungen, die der Gemeinde dadurch er-
wachsen, sind so gewaltig, daß sie auf eine längere
Dauer von ihr nicht getragen werden können.
Die gesamten Ausgaben der Gemeinde seit dem 1. April ds. Js. betragen
am 10. ds. Mts. rund 130 Billarden M, denen
an Einnahmen nur 17 Billiarden M gegen-
überstehen, sodaß ein Fehlbetrag von 113 Billi-
arden M vorhanden ist. Dieser Fehlbetrag ist
vorläufig durch städtisches Notgeld gedeckt worden,
weil eine andere Möglichkeit zur Aufbringung
desselben nicht gegeben war. An Notgeld befinden
sich z. Zt. rund 128 Billiarden M im Umlauf. Nach
Zeitungsnachrichten soll das städtische Notgeld
bis Ende Januar k[ommenden J[ahre]s zur Einlösung gelangen.
Dies wird hier nur möglich sein, wenn der Ge-
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meinde ein angemessener Kredit von Dritter
Seite zur Verfügung gestellt wird oder wenn
es ihr gelingt, sich die erforderlichen Mittel
im Wege der Anleihe zu beschaffen, die
diesbezügl[ichen] Verhandlungen sind bisher erfolglos
geblieben.
Sollte in der wirtschaftlichen Lage nicht in
Bälde eine Besserung eintreten, so ist mit
weiteren erheblichen Ausgaben für
die Erwerbslosenfürsorge und die sonstige
Wohlfahrtspflege zu rechnen. Im Haushalts-
plan für das Rechnungsjahr 1923 (1. April 1923 bis 31. März 1924)
sind die Ausgaben für die Wohlfahrtspflege
mit 492 Billiarden M eingestellt. Davon sind
für die Unterstützung der Erwerbslosen u.
die Einrichtung von Volksküchen 104 Billiarden
M vorgesehen. Da die Volksküchen infolge
der geringen Barunterstützungen noch er-
heblich erweitert werden müssen, wird die
genannte Summe bei länger fortdauernder
Erwerbslosigkeit kaum ausreichen. Die
Aufbringung des Defizits im Gemeinde-
haushalt für das oben genannte Rechnungs-
jahr in Höhe von 390 Billiarden M durch
Steuern (Grund- und Gewerbesteuern) wird
nicht möglich sein, weil der Grundbesitz über-
lastet ist und das Gewerbe darniederliegt.
Dazu sind die Unternehmer und die wenigen
begüterten Bürger bereits für die Kartoffel-
beschaffung und die Aufrechterhaltung der
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Volksküche in erheblicher Weise in Anspruch
genommen worden, sodaß sie weitere Be-
lastungen durch Steuern nicht mehr werden
tragen können. Überweisungen an Steuern
durch das Reich sind bei der Katastrophalen
Lage der Reichsfinanzen nicht zu erwarten.
Dabei nimmt die Not in der Bürgerschaft, insbe-
sondere bei den Erwerbslosen und Kurzarbeitern,
bei den alten Leuten, den Rentnern, Hausbe-
sitzern u. dgl. täglich schärfere Formen an.
Die Unterernährung der Kinder schreitet in
erschreckender Weise fort. Die Wohnungsnot
ist hier besonders groß. Weitere Kreise sind
von Kleidern, Wäsche u. Schuhen entblößt. In
vielen Haushaltungen fehlen Kartoffeln und
Brennstoffe. In allen diesen Fällen kann die
Gemeinde nur der größten Not steuern, weil
ihre Mittel bei weitem nicht ausreichen, um
allen Anforderungen gerecht zu werden.
Das Notgeld der Gemeinde wird in den
Nachbargemeinden, von den Banken, der
Post, den Straßenbahnen teils nur noch wider-
strebend, teils überhaupt nicht mehr in Zahlung
genommen. Sollte es in den nächsten Tagen
oder Wochen seine Eigenschaft als Zahlungsmit-
tel völlig verlieren, so würde die Gemeinde
vor die Frage gestellt sein, woher sie die Mit-
tel nehmen wollte, um die unbedingt not-
wendigen Ausgaben an Gehältern, Löhnen,
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Unterstützungen u. dgl. zu bestreiten. Die Ein-
nahmen der Gemeinde aus Steuern würden
dazu bei weitem nicht ausreichen. In diesem Falle
würde es
mir nicht möglich sein, die Verantwortung für
eine ordnungsmäßige Verwaltung der Ge-
meinde weiter zu tragen.
Ich habe geglaubt, der Besatzungsbehörde von
dem Stande der finanziellen Verhältnisse der
Gemeinde Mitteilung machen zu sollen,
damit sie in der Lage ist, die Maßnahmen
zu treffen, die ihr nach Lage der Sache als
notwendig erscheinen.
2) Abschrift dem Hl[.] Landrat in Opladen zu
übersenden.
3) Z[u] d[en] A[kten]
D[er] B[ürgermeister]
[Paraphe]
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Stadtarchiv Solingen: RK (14. Dezember 2023). 14. Dezember 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 9. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/ag8u