13. November 1923

Quelle: Stadtarchiv Troisdorf, Pressesammlung: Siegburger Kreisblatt vom 13. November 1923

Reichskanzler Stresemann sprach in Halle an der Saale über die tiefe Not Deutschlands. Durch die Ausrufung „Herrn Hitlers zum neuen Leiter der Reichsgeschicke“ sei ein Schaden angerichtet worden, an dem noch lange zu tragen wäre.

         Dr. Stresemann über die Not Deutschlands

   Wtb. Halle, a. S., 11. Nov Reichskanzler Dr.
Stresemann traf heute nachmittag gegen 5 Uhr in
Begleitung des Reichsinnenministers Dr. Jarres und
des Staatssekretärs Kampkes hier ein. In einer
Rede auf dem Landesparteitag der Deutschen Volks-
partei erklärte Dr. Stresemann nach Begrüßungs-
worten des Vorsitzenden der Partei des Wahlkreises,
die das opferfreudige Einspringen des Kanzlers in
schwerer Zeit in die Bresche hervorhoben und die
unbedingte Billigung der Politik des Kanzlers durch
seine Parteifreunde betonten, etwas aus:


Die tiefe äußerste und innere Not des dem Zu-
sammenbruch nahen Zustandes Deutschlands in wirt-
schaftlicher und sozialer Beziehung und alle Fol-
gen davon, die Verwirrung der politischen Leidenschaf-
ter seien verursacht durch die außenpolitische Bedrük-
kung. Frankreich hätte die Möglichkeit, die deut-
schen innenpolitischen Verhältnisse zu ändern, wenn
die französische Politik so wäre, daß sie uns leben
ließe und so dem Radikalismus in Deutschland ent-
gegenwirke. Auf diee separatistischen Machenschaften
an Rhein und Ruhr eingehend, sagte der Kanzler:
Wenn man nur den Rheinländern selber die Mög-
lichkeit gebe, sich gegen dieses Gesindel zu wehren,
wäre das ganze Gesindel in 24 Stunden erledigt.
Statt dessen, statt vollkommener Neutralität von
draußen, sei die Schutzpolizei entwaffnet worden. Die
Haltung Belgiens in dieser Frage sei neuerdings er-
freulich, und auch England habe erklärt, daß ein
Rheinstaat, unabhängig von Deutschland, eine Ver-
letzung des Versailler Vertrages sei, die England nicht
anerkennen werde. Aus der Zerstümmelung unsers
Landbesitzes, der Fortnahme unserer ausländischen
Vermögen unserer Kolonien und der Urgebiete der
Produktion müsse wirtschaftlicher, sozialer und wirt-
schaftlicher Zusammenbruch kommen. Dazu komme
der Radikalismus. Die Erhaltung der gegenwär-
tig 2 Millionen Arbeitslose und der 2 Millionen
Kurzarbeiter allein im Ruhrgebiet gehe über Deutsch-
lands Leistungsvermögen. Die Herausgabe wertbe-
ständigen Geldes müsse Hand in Hand gehen mit
einer rigoros durchgeführten Staatsbilanzierung, so
schmerzlich der Beamtenabbau auch sei. Auf die Hun-
gersnot, die uns bevorstehe, seien die karitativen Or-
ganisationen der ganzen Welt mit der Bitte um Hilfe
hingewiesen. Zur Frage der vom ehemaligen Kron-
prinzen gewünschten Rückerlaubnis nach Deutschland
nahm der Kanzler in dem Sinne Stellung, daß dem
Kronprinzen, der nicht der schlechteste Deutsche sei,
die Rückkehr in seine deutsche Heimat nicht ver-
wehrt werden dürfe, und daß die Entscheidung hier-
über eine durchaus innenpolitische Angelegenheit sei,
die das deutsche Volk sich nicht vorwegnehmen lasse.
Weiter rechtfertigte der Kanzler die Haltung der
Reichsregierung in der Angelegenheit des Ermäch-
tigungsgesetzes. Den Schaden den die Ausrufung des
Herrn Hitler in München zum neuen Leiter der
Reichsgeschicke angerichtet hätte, würden wir noch
lange zu tragen haben. Das Verhalten Ludendorffs
in dieser Angelegenheit sei höchst bedauerlich. Die
Reichswehr sei in den schwersten Gewissenskonflikt
geführt. Der Kanzler würde den Augenblick be-
grüßen, in dem das Streitbeil zwischen Bayern und
dem Reich begraben würde. Was den Marxismus
angehe, so meine er, jener passe für eine Zeit natio-
naler Volkskraft, nicht für eine Zeit des Nieder-
gangs, wie die jetzige. Marx selbst würde auf eine
Zeit, wie die jetzige, seine Ideen nicht anwenden wol-
len. Die Ausgabe des wertbeständigen Geldes
werde durch den gestern begonnenen Buchdruckerstreik
in Berlin gefährdet oder doch verzögert. Die Re-
gierung werde deshalb mit äußerster Entschiedenheit
vorgehen und jeder entlassen, der bis morgen
seine Arbeit nicht wieder aufgenommen habe. Der
Kanzler mahnte zur Zusammenarbeit, um aus der
tiefen Not unserer Tage wieder herauszukommen.
   Mit dem gemeinsamen Gesang des Deutschland-
liedes schloß die Kundgebung.
   Um 8,26 Uhr hatte der Kanzler Halle wieder
in der Richtung Berlin verlassen.

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Stadtarchiv Troisdorf (13. November 2023). 13. November 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 12. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/ag6e


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