Quelle: Stadtarchiv Troisdorf, Pressesammlung: Siegburger Kreisblatt vom 6. November 1923
Nach einem Streit mit der SPD sei nun auch das zweite Kabinett unter Gustav Stresemann zerbrochen. Eine Vollversammlung des Reichstags werde zeigen, ob das Kabinett durch neue Koalitionsbildung ergänzt werden könne oder ob Neuwahlen im Ausnahmezustand drohten.
Das dritte Kabinett Stresemann.
Von einem parlamentarischen Mitarbeiter.
Auf Mittwoch dieser Woche ist eine Voll-
sitzung des Deutschen Reichstages angesetzt, in
der es zu einer allgemeinen politischen Aus-
sprache kommen soll. Es kann aber auch anders
kommen. Dr. Stresemann kann die Unterschrift
des Reichspräsidenten aus der Tasche ziehen und
den Reichstag auflösen mit der Begründung:
Die große Koalition ist tot, wir wissen nicht mehr
weiter.
Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion
erklärte sich schwer gekränkt durch die Ernen-
nung Dr. Heinzes zum Reichskommissar für
Sachsen, durch die Absetzung der sächsischen Lan-
desregierung und durch die ganze Art, wie die
sächsischen Minister unter Mitwirkung der Mi-
litärs davongejagt worden seien. Sie zwang die
Reichstagsfraktion, dem Kanzler ein Ultimatum
zu stellen. Mehr noch, sie sorgte dafür, daß
das Ultimatum sofort in ihrer Presse erschien,
damit die Oeffentlichkeit, ohnehin gereizt durch
die Erschütterungen auf dem Wirtschafts- und
Währungsgebiete an der Wichtigkeit der parla-
mentarischen Krise keinen Zweifel hegen sollte.
Die drei Forderungen: Aufhebung des mili-
tärischen Ausnahmezustandes, Vorgehen gegen
Bayern wegen Verfassungsbruches und Zurück-
ziehung der Reichswehrtruppen – hätten sich
vielleicht im Schoße des Reichskabinetts auf güt-
lichem Wege erledigen lassen. Da die Angelegen-
heit aber nun einmal an die große Glocke ge-
hängt war, durfte der Eindruck nicht erweckt wer-
den, als stehe der ermächtigte Diktator Strese-
mann unter dem Diktat der Sozialdemokratie.
Lange genug ist der Vorwurf des Marxismus dies
[unleserlich]
Rein sachlich waren ja auch alle Voraussetzungen,
das Ultimatum abzulehnen, gegeben: Die inner-
politische Lage ist zum Reißen gespannt. Die
Verhältnisse in Sachsen sind durchaus nicht be-
Lfriedigend geregelt. An der thüringisch-bayerisch.
Grenze gehen Dinge vor, die den verantwortlichen
Leiter der Reichspolitik nicht veranlassen kön-
nen, den Ausnahmezustand aufzuheben oder die
vollziehende Gewalt jetzt schon wieder an Zivil-
personen zu übertragen. Dem Reichskanzler
blieb also dem Ultimatum gegenüber nichts ande-
res übrig, als entweder selber zurückzutreten oder
die drei sozialdemokratischen Mitglieder seines
Kabinetts, Vizekanzler Robert Schmidt, Reichs-
innenminister Sollmann und Reichsjustizminister
Dr. Radbruch zum Rücktritt aufzufordern. Letz-
tteres geschah. Die drei Minister reichten prompt
ihr Demissionsgesuch ein. Die Sozialdemokra-
tie hat ihren Willen, und das deutsche Volk, von
unerhörten Sorgen und Wirren bedrängt, steht
vor der Notwendigkeit, sich von einem dritten
Kabinett Stresemann regieren zu lassen.
Wie soll dieses Kabinett aussehen? Es gibt
drei Möglichkeiten. Erstens die kleine Koa-
lition, also eine Arbeitsgemeinschaft der Mitte
gestützt auf die Deutsche Volkspartei, das Zen-
trum, und die Demokraten. Eine solche Re-
gierung läuft ständig Gefahr, sich in der parla-
mentarischen Minderheit zu befinden. Aus So-
zialdemokraten, Deutschnationalen, Bayerischer
Volkspartei, Kommunisten und Deutschvölkischen
kann sich jederzeit eine Opposition zusammen-
brauen, die dieser Minderheitsregierung das Le-
ben unmöglich macht. Zweitens läßt sich an den
Eintritt der Deutschnationalen in das neue Kabi-
nett denken. Darüber ist nach der Abdankung
der Sozialdemokraten in den Fraktionszimmern
des Reichstages eifrig verhandelt worden. Kommt
es zum Einzug der Deutschnationalen so müßten
sich selbstverständlich alle bürgerlichen Parteien
damit einverstanden erklären. Sonst liegt wieder
eine Minderheitsregierung vor. Von Seiten der
Demokraten wird aber bis jetzt der lebhafteste
Protest dagegen erhoben, mit den Deutschnatio-
nalen zusammenzuarbeiten. Kommt die Einigung
nicht zustande, so bleibt dem Kabinett, das sich
selbst als die letzte parlamentarische Regierung
bezeichnet hat, nichts anderes übrig als der Appell
an die Wähler.
Was geschieht aber dann bis zu den Wahlen?
In ruhigen Zeiten könnte man sich mit einem
Geschäftsministerium begnügen. Der Kanzler
anlaßt drei Beamte oder Wirtschaftsführer un-
politischen Charakters, die verwaisten Posten des
Kabinetts einzunehmen. Im Zeichen der Dikta-
tur und des Ausnahmezustandes erscheint diese
Zwischenlösung als undurchführbar. Hoffentlich
sind sich die Parteien der schweren Verantwor-
tung dieses Augenblicks bewußt. Entweder ge-
lingt die Ergänzung des Kabinetts auf politischem
Wege oder die Reichsregierung bricht endgültig
auseinander.
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Stadtarchiv Troisdorf (6. November 2023). 6. November 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 11. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/ag4l