Quelle: Stadtarchiv Troisdorf, Pressesammlung: Siegburger Kreisblatt vom 26. Oktober 1923
Die Preise für Brot stiegen unaufhaltsam, so dass die Mehrheit der Deutschen es sich nicht mehr leisten könne. Auslöser dafür sei das Ende der staatlich verordneten Höchstpreise für Backwaren. Die erneute Einsetzung eines Reichsernährungsministers – ein Relikt aus Kriegszeiten – solle die Entwicklung nun richten.
Rettet das Brot!
Die Mission des Grafen Kanitz.
– er. Berlin, 24. Oktober.
Zu allen politischen und wirtschaftlichen
Schrecken dieser schauerlichen Zeit ist nun auch die
Brotnot gekommen. Vor den Bäckerläden stehen,
wie bisher vor Butter und Margarine, lange
Schlangen von murrenden und drohenden Men-
schen, die nur noch das eine Bestreben haben,
einen Vorrat von Brot einzukaufen, ehe der
Preis weiterklettert. Der Brotpreis stieg in
Berlin innerhalb fünf Tagen von 480 Millio-
nen auf 1 Milliarde, von 1 Milliarde auf 1,8,
von 1,8 auf 5,5 Milliarden und wenn es auch
nur ganz kurze Zeit so fortginge, reichten die
Einnahmen keines einzigen Deutschen mehr aus,
um sich das wichtigste Nahrungsmittel zu kaufen.
In diesem kritischen Augenblick ist ein Staats-
posten besetzt worden, den man bei der letzten
Koalitionskrise bereits für überflüssig gehalten
hatte. Der Reichstagsabgeordnete Graf Ger-
hard Kanitz wurde zum Reichsernährungsmini-
ster ernannt. Der neue Minister soll die künftige
Ausgabe des Brotgetreides unter Heranziehung
der beträchtlichen angesammelten Reserven zu fest-
gelegten Preisen bewerkstelligen, um einen
Brotpreis zu sichern, der mit den derzeitigen Ein-
kommensverhältnissen der breiten Masse einiger-
maßen im Einklang steht. Mit anderen Worten:
Der Brotpreis soll stabilisiert werden. Gelingt
dies, so ist das Hamstern von Brot, das in
den letzten Tagen so eifrig betrieben wurde,
ein schlechtes Geschäft geworden. Die Gerechtig-
keit gebietet allerdings festzustellen, daß nur ein
kleiner Teil der Bevölkerung sich diesem Sport
hingeben konnte. Die meisten hatten garnicht
mehr die Geldmittel dazu. Auch ist das Ham-
stern nicht die Ursache des allgemeinen Brot-
mangels‘ Vorräte an Getreide sind in Deutsch-
[…]
Nur infolge der wahnwitzigen Preissteigerung
ist das deutsche Volk – dies Wort fiel neulich
im Reichstag – drauf und dran, bei vollen
Scheunen zu verhungern.
Hinwiederum ist der Grund für den uner-
schwinglichen Brotpreis nicht lediglich im letzten
Markverfall, nicht im politischen Zusammenbruch
und in der neuesten Währungskatastrophe allein
zu suchen. Es spielen vielmehr besondere Ver-
hältnisse verschärfend mit. Am 15. Oktober ist
bekanntlich die Zwangswirtschaft für Brotgetreide
aufgehoben worden. Die Brotkarte als letztes
Wahrzeichen der Kriegswirtschaft entfiel. Seit-
dem verlangen die Mehlgroßhändler, die Mühlen
und die Landwirte von allen Bäckermeistern die
Bezahlung des Mehles in Gold. Darauf war
niemand vorbereitet. Die Folge ist, daß sich
in den Bäckereien noch nicht die Hälfte des Meh-
les findet, das notwendig wäre, um auch nur den
nächsten notwendigen Brotbedarf zu decken. Der
alte Wuchervorwurf weiter Kreise des Publikums,
die Bäckermeister hielten Mehl und Brot zu-
rück, um den Preis zum Anziehen zu bringen,
trifft zweifellos nicht zu. Auch das zeitweise
Schließen vieler Bäckergeschäfte geschah nicht in
wucherischer Absicht und nicht aus Angst vor
Plünderungen, sondern nur infolge des Mangels
an Waren, die nur noch in kleinen Schüben
herausgebracht wird.
In dieser Not, die auch das vielbeneidete,
angeblich goldene Handwerk nicht verschont, hat
sich die Berliner Bäckerinnung an die Behörden
gewandt, und darauf aufmerksäm gemächt, däß
die Meister und Brotfabriken unter den obwalten-
den Zuständen nicht mehr in der Lage sind, den
Bedarf der Großstadt zu decken und für die Fol-
gen nicht verantwortlich gemacht werden kön-
nen. Hier setzt die schwierige Aufgabe des neuen
Reichsernährungsministers ein. Man verlangt
vom Grafen Kanitz, daß er die Reichsgetreide-
stelle mobil macht, die ja noch vorhanden ist und
die eigens für die Hungersgefahr dieses Winters
in Bereitschaft gestellt wurde. Da der freie Han-
del bei der Mehlversorgung versagt hat, sollen
über seinen Kopf hinweg Reserven herangeschafft
und ein Höchstpreis für das Brot festgesetzt wer-
den. Das ist aber nichts anderes als die Wie-
dereinführung der Zwangswirtschaft mit allen
ihren Schrecken und Nachteilen.
Graf Kanitz, der 38jährige jüngere Bruder
[…]
fiel, bringt für sein Ministeramt nicht nur die
nötigen Fachkenntnisse, sondern auch die Bezie-
hungen mit, die erforderlich erscheinen, um die
rettende Mitwirkung der deutschen Landwirtschaft
zu sichern. Es ist ein persönliches Opfer, daß
der bisherige deutschnationale Abgeordnete in die
von seinen Partei- und Standesgenossen be-
kämpfte Regierung eintritt. Ohne den patrio-
tischen Opfermut des ganzen deutschen Nähr-
standes kann das schwere Werk nicht gelingen.
Und ohne die nebenher gehende beschleunigte
Währungsreform müßte auch das Werk der Brot-
Rettung scheitern.
F. A.
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Stadtarchiv Troisdorf (26. Oktober 2023). 26. Oktober 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 9. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/ag3b