Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 19. Dezember 1923

Die Not des Alltags, die alltäglichen Diebstähle, zu geringe Unterstützungen – wie soll es weitergehen? „Prolet, du mußt handeln, mußt dich selber befreien!“ Konkreteres hat die „Bergische Arbeiterstimme“ auch nicht anzubieten.

          Wo gibt es einen Ausweg?
   Täglich mehr Leute sprechen bei uns vor mit der obigen
Frage auf den Lippen. „Was fangen wir an? Ich laufe
jeden Morgen von Hause fort, nur um nicht das Gezeter der
Frau und der Kinder zu hören!“ „Heute sind meine Kinder
wieder mal ohne Frühstück zur Schule gegangen“. Solche
Klagen hört man fortgesetzt.  Und was wird heute nicht alles geklaut! Unsere „B. Z.“,
die sonst nicht eilig genug mit der Registrierung all der kleinen
Diebstähle bei der Hand sein konnte, hüllt sich in Schweigen.
Sie hat gar nicht mehr den Mut, den entsetzlichen Umfang der
Diebstähle zu veröffentlichen, weil sie sonst auch die notwendige
Schlußfolgerung, nämlich die große Not, die zu solchen
Handlungen führt, einräumen müßte.
   Es vergeht keine Nacht, wo nicht irgendwelche Hühner,
Enten, Schafe usw. geholt werden.
   Ist da eine Familie von 9 Personen; der Mann hatte
2X4,6 Billionen Unterstützung die Woche bekommen; dazu
kamen noch 2,9 Billionen Unterstützung einer Tochter und ein
Sohn brachte 3 Billionen nach Hause, das sind zusammen 14
Billionen. Da kommt der Bäcker und wünscht 9 Brote bezahlt
zu haben, bleiben noch 5 Billionen übrig. Dafür wird dann
1 Zentner Kartoffeln gekauft. Wir fragen euch, Vertreter der
verschiedensten Verwaltungsämter, die ihr immer mit so ge-
wichtigen Mienen die Not „anerkennt“ (euch aber im
übrigen noch weiter pflegt, als wenn es Manna reg-
nete, wie es möglich ist, davon auch nur zu vegetieren.
Von leben wollen wir schon gar nicht mehr reden! Ein anderer
will eine neue Hose haben. Er kann sie vom Wohlfahrtsamt
vermittelt bekommen, aber nur, um sich den Preis derselben
nach und nach von der Arbeitslosenunterstützung abhalten zu
lassen. Wir staunen, daß man das den Arbeitslosen noch zu-
mutet. Das ist geradezu eine Unverschämtheit.
   Wo gibt es einen Ausweg? Prolet, du mußt handeln,
mußt dich selber befreien! Mußt diese Bande mit den feisten
Gesichtern zwingen, von demselben schmalen Etat zu leben,
wie du es mußt. Helft euch selber! Einen anderen Ausweg
gibt es nicht!