Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 17. Dezember 1923

Betrachtungen zur Not des Proletariats

            Das Elend schreit zum Himmel!
   „Wer Augen hat zu sehen, der sehe!“ Und
wirklich, um das furchtbar grassierende Elend zu studieren, unter
Mißachtung von unberechtigten Vorurteilen, braucht man heute
nur auf die Straße zu treten. Jeder zweite Mensch, der einem be-
gegnet, schleppt sich nur noch mühsam dahin. Stieren Blickes
vor sich hinschauend, Haß und Wut im Innern, die blutleeren
Lippen beladen mit unzähligen Flüchen auf die im Auto vorbei-
flitzenden Protzen. So begegnen uns täglich tausende bitter
notleidende Volksgenossen, Frauen und Kinder des Proletariats,
ihren abgezehrten Körper notdürftig in alte Lumpen gehüllt.
Ihre Füße stecken in total zerfetztem Schuhwerk, sofern hiervon
überhaupt noch die Rede sein kann.
   Und wie erst sieht es aus daheim bei diesen Aermsten, in
ihren öden, ungeheizten Löchern und Buden! Und wie furcht-
bar erst recht ist die Armut mit all ihren Schrecken zu Hause
bei jenen bedauernswerten Mitmenschen, die sich überhaupt nicht
mehr hinauswagen ans Tageslicht, die sich längst geschickt haben
in ihr trauriges Proletenlos! Unzählig viele solcher Familien
und alleinstehender Personen gibt es, ja auch bei uns in So-
lingen. Man gehe — nein, man krieche nur ganz ungeniert
mal hinein in diese Höhlen, und mancher Lästermund wird
jah [sic!] verstummen. Niemals wieder würde er sich öffnen, wenn in
übermütiger übler Rede das Proletariat beschimpft und besudelt
wird von Menschen, denen nie der Magen geknurrt oder nie
das Nachtlager zu hart war.
   Es ist eine bittere Tatsache, daß heute bereits wieder in
manchen Arbeiterfamilien die sogen[annte] „Hindenburgkartoffel“, die
Steckrübe, als Ersatz gilt für Kartoffeln und
Brot. Gierig vor Hunger strecken sich Kinderhände der
Mutter entgegen, die eben dabei ist, solch eine dicke, wasserhaltige
Knolle zu zerschneiden und zu verteilen. Wer vermag sich über-
haupt hineinzudenken von euch Satten und Reichen, heute —
bei den gefüllten Scheunen in Deutschland?
Kommt es euch immer noch nicht zum Bewußtsein, wie ver-
brecherisch eure Klasse handelt an jenen, die euch zum Wohl-
stand verhalfen? O, wie gründlich, wie unbarmherzig wird
die Rache sein, wenn einst die große Auseinandersetzung kommt!
Nein, keine Gnade seid ihr wert. Es würde gleichsam eine
Prämie bedeuten für eure grenzenlose Brutalität, wollten die
so Darbenden dies vergessen. Ihr habt es nicht anders ge-
wollt und so werdet ihr der längst verdienten Strafe nicht ent-
gehen. Eure Verbrechen an der gesamten Menschheit wiegen
denn doch allzu schwer!