8. Dezember 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 8. Dezember 1923

Die Solinger Metallgewerkschaften lehnen den Tarif-Spruch des Schlichtungsausschusses ab. Denn im Vergleich zu benachbarten Städten werden in Solingen deutlich geringere Löhne gezahlt.

                         Die Lohnregelung in der Solinger
                                         Industrie
wird für die Arbeiterschaft immer ungünstiger. Immer schlechter
gestaltet sich die Lebenslage der gesamten werktätigen Bevölkerung.
Das Unternehmertum schließt rücksichtslos die Betriebe und geht
gefühllos an den Tausenden von halbverhungerten Proleten vor-
über, die seit vielen Monaten die Straße bevölkern.
   Das Angebot der Arbeitgeber für die Kollektivarbeiter, das
durch einen Spruch des Schlichtungsausschusses von 33½ auf 20
Prozent Zuschlag auf die Grundlöhne ermäßigt wurde, ist ein-
stimmig in der Versammlung des Metall- sowie Industriearbeiter-
verbandes abgelehnt worden. Ebenso auch beschlossen die
christlichen Arbeiter. Und das mit vollstem Recht, Herr Amtsge-
richtsrat Benn! Wir hätten Ihnen denn aber doch etwas mehr
soziales Verständnis zugetraut. Bitte merken Sie sich doch gefälligst,
was im nachstehenden ein Arbeiter zu dem famosen Schlichtungs-
spruch zu sagen hat, der unter Ihrem Vorsitz gefällt wurde:
   „Die Kollektivarbeiter haben den Schiedsspruch des hiesigen
Schlichtungsausschusses vom Dienstag abgelehnt, weil er ein
Fehlspruch ist. Nach dem Schiedsspruch erhält der Solinger
Facharbeiter diese Woche bei einem Einzelhandelsmultiplikator von
1,1 Billion pro Stunde 528 Milliarden Mark. Nach der gestrigen
Vereinbarung in Köln erhält derselbe Facharbeiter bei demselben
Einzelhandelsmultiplikator pro Stunde: 1100 Milliarden Mark.
Das ist rund der doppelte Lohn wie hier in Solingen. Selbst im
unbesetzten Elberfeld, wo die Teuerung teilweise 50 Prozent und
darüber geringer ist als in Solingen, zahlen die Arbeitgeber ihren
Facharbeitern in dieser Woche 116 Milliarden Mark mehr pro
Stunde als der Schiedsspruch den Solinger Arbeitern zuerkennt.
In Remscheid, Cronenberg und Haan erhalten die Arbeiter zu den
Elberfelder Sätzen noch einen besonderen Zuschlag von 10 Prozent.
Diese Tatsachen waren dem Solinger Schlichtungsausschuß bekannt.
Wenn er trotzdem diesen unglaublichen Spruch gefällt hat, so ist das
im Interesse der gesamten Arbeitnehmer tief zu bedauern und
trägt nur dazu bei, das Schlichtungswesen im Solinger Bezirk in
Mißkredit zu bringen. Eine Reihe einflußreicher Fabrikanten
hat eingesehen, daß der Schiedsspruch unhaltbar ist und zahlt den
Arbeitern einen Aufschlag von 33½ Prozent auf die Grundlöhne“.


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Stadtarchiv Solingen (8. Dezember 2023). 8. Dezember 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 9. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/ag2l


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