Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 30. November 1923
Ein Vergleich aus militärischer Perspektive: der Hitler-Putsch in München, der Widerstand gegen den Kapp-Putsch 1920 und der Arbeiteraufstand in Hamburg
Hamburg und München.
Der Putsch der Hitlerleute in München, der äußerlich gesehen
eine Harlekinade war, hat auch noch eine sehr ernste strategische
Seite, die es wert macht, einige Betrachtungen darüber anzustellen.
Die Hitlerleute in München, die nicht nur in Bayern, sondern im gan-
zen Reiche die Macht an sich reißen wollten und dabei vorübergehend
einen Fehlschlagerlitten [sic!] haben, sind nicht Putschisten von der Sorte,
die aus Verzweiflung zu einem wahnsinnigen Schritt getrieben werden.
Hitler konnte seine Mannen vielmehr seit Jahr und Tag unter den
Augen der bayerischen Regierung und mit stillschweigender Duldung der
Reichsregierung zu dem vorgesehenen Schlag gegen die deutsche Re-
publik einexerzieren und militärisch formieren. Es ist kein Geheimnis,
daß die Hitlerleute und die Kampfverbände ihre Waffen und Aus-
rüstungsgegenstände aus den Arsenalen der Polizei erhielten. Auch
ihre Ausbildung erfolgte unter dem Kommando von Militärs in den
Kasernen der Polizei oder auf den Exerzierplätzen der bayrischen
Reichswehr. Die Hitler-Leute hatten von keiner Seite irgendeine
Schwierigkeit zu erwarten. Großartige Felddienstübungen und Paraden
konnten bis zum letzten Augenblick abgehalten werden. Es ist nicht
zu hoch geschätzt, wenn man die Zahl der Hitler-Leute in München
mindestens 20 000 Mann schätzt.
Was haben diese 20 000 Mann, militärisch gesehen, getan, als
Hitler und Ludendorff in der Nacht des 9. November die Macht an
sich gerissen hatten? Sie trieben auf den Straßen allerlei Gaudium,
sie zerstörten die Druckerei der Münchener Post, nahmen Verhaftungen
vor, klebten Plakate an, teilten Flugbätter [sic!] aus und zogen mit „Heil
dir im Siegerkranz“ und „Deutschland über alles“ singend und gröh-
lend durch die Straßen. Weder von der Polizei noch von der Reichs-
wehr wurde ihnen die ganze Nacht hindurch bis in die Mittagsstunden
des anderen Tages hinein Widerstand entgegengesetzt. Bei dem Zu-
sammenstoß auf dem Odeonplatz gab es den ersten und einzigen Zu-
sammenstoß. Eine Salve genügte, den Hitlerschen Stoßtrupp, an dessen
Spitze sich die namhaften Führer befanden, auseinanderzujagen. Von
diesem Augenblick ab beschränkten sich die Hitler-Leute wieder darauf,
in den Straßen und in den Universitätsräumen Krach zu schlagen und
ihre Kraft in Lungenübungen auszutoben. Sie haben damit von neuem
den Beweis erbracht, daß in Deutschland ein Kehlkopf mehr gilt als
hundert Köpfe. Die Hitler-Leute konnten stark sein und sind stark,
so lange sie nicht auf Gegenwehr stoßen und ihre bewaffneten Umzüge
Provokationen unter Duldung der Regierung veranstalten können.
Von dem Augenblick ab, wo es gilt, den Worten Taten folgen zu
lassen, wo es hart auf hart geht, verläßt die Hitler-Leute die Courage.
Sie können in der Praxis nur kämpfen gegen wehrlose Proleten.
Einer bewaffneten Macht gegenüber verzichten sie auf Gegenwehr
und toben ihre Kraft verschwenderisch in Schimpfen aus.
Was hat, gemessen an dieser kläglichen Haltung, im Verlauf der
revolutionären Kämpfe der letzten Jahre die deutsche Arbeiterklasse
an Kraftentfaltung zuwege gebracht? Die deutsche Arbeiterklasse hatte
nie militärisch organisierte Abwehrformationen zur Verfügung. Sie
wurde nach dem Kriege restlos entwaffnet. Wo Abwehrmaßnahmen
im Erstehen begriffen waren, wurden sie sofort mit Zuchthaus und
Standrecht ausgerottet. Das ganze Jahr 1919 hindurch war die deut-
sche Arbeiterklasse wehrloses Objekt in den Händen der von Noske
aufgestellten militärischen Freischaren. Diese mordeten, sengten, ver-
hafteten und standrechteten. Erst als der Kapp-Putsch kam,
besann sich die deutsche Arbeiterklasse darauf,
ihren Feind mit der gleichen Waffe zu schlagen, mit der sie
angegriffen wurde.
Weil ein einheitlicher politischer Wille über Nacht die fortge-
triebenen Teile der Arbeiterklasse beseelte, fand sich auch rasch die
Möglichkeit zur Bewaffnung. Die Arbeiter bemächtigten sich der
Waffen-Arsenale, die von den legalen und illegalen Verbänden der
Konterrevolution zum Kampf gegen die Arbeiter angelegt worden
waren. Sie traten in Thüringen und Sachsen, am stärksten aber in
Rheinland-Westfalen, entschlossen zum Widerstand an und leisteten
[?et] in acht Tagen an Kraftenfaltung [sic!] das Herrlichste was jemals die
deutsche Arbeiterklasse in revolutionären Kämpfen zu leisten vermocht
hatte. Die konterrevolutionären Freikorps, der Schrecken der deut-
schen Arbeiterklasse solange diese sich nicht wehrte, die Hoffnung und
der Stolz der Konterrevolution, stoben wie Glas auseinander. Lützow,
Lichtschlag und Schulz wurden in Rheinland-Westfalen der Reihe nach
aufs Haupt geschlagen, entwaffnet und zersprengt. Mit der militäri-
schen Disziplin des kaiserlichen Heeres, die nach der Revolution unter
Noskes Oberleitung wieder eingeführt war und die der Kitt der
konterrevolutionären Truppe sein sollte, war es nichts, sobald die Frei-
korps auf die bewaffneten Scharen der Arbeiter stießen,
die keinen militärischen Drill kannten, dafür aber durch die
Kraft der revolutionären Idee wie Stahl zusammengeschweißt waren
und standhielten.
Daß diese Bewegung später versumpfte und nicht den Erfolg
zeitigte, den sie haben konnte, lag nicht an der Unfähigkeit der
kämpfenden Masse, sondern an dem Verrat der politischen Führer, die
ihr Schäfchen wieder im Trockenen glaubten, als es ihnen dank des
Opfermutes und der revolutionären Hingabe der kämpfenden Arbeiter
gelungen war, wieder nach Berlin zurückzukehren und ihre Regierungs-
sessel weiter in behaglicher Ruhe drücken zu können.
Wir wollen von den weiteren Kämpfen der deutschen Arbeiter-
klasse Abstand nehmen, obwohl es auch hier reizen könnte, aufzu-
zeigen, wie die deutsche Arbeiterklasse unter den schwierigsten Um-
ständen, gemessen an der Leistung der Hitler-Leute in München, Taten
vollbrachte, die in der Geschichte der revolutionären Kämpfe ihr Urteil
bestehen können. Nur auf ein Beispiel aus der allerletzten Zeit wollen
wir noch hinweisen: Auf Hamburg. Dort haben geringe Teile der
Arbeiter, durch einen unglücklichen Umstand auf den Plan tretend
frühzeitig losgeschlagen. Wir wollen über diesen Kampf hier nicht ein
politisches Urteil fällen, wir wollen nur einen
rein militärischen Vergleich zwischen dem Kampf in Hamburg und
dem Hitler-Putsch in München
ziehen. In Hamburg kämpften im ganzen etwa höchstens 200
Mann. Sie waren nicht militärisch ausgebildet und einexerziert unter
den Augen der Behörden, sie hatten nicht die gutfunktionierenden
Waffen der Münchener Putschisten zur Verfügung. Sie hatten sich die
Waffen durch einen kühnen Handstreich aus einigen Hamburger
Polizeiwachen und leisteten, militärisch kümmerlich ausgestattet, über
zwei Tage einen so heroischen Widerstand, daß die gesamten Ham-
burger Polizeikräfte sowie starke Teile der Reichswehr und der
Marine gegen sie aufgeboten werden mußten um den Widerstand zu
ersticken.
Wenn die Hitler-Leute in München mit ihrer fachmännischen
militärischen Ausbildung und ihrer glänzenden militärischen Bewaff-
nung auch nur den zehnten Teil an ideeller Kraft aufzubringen imstande
wären, wie die Hamburger Arbeiter, dann hätte ihr Putsch den Herren
Kahr und Lossow Schwierigkeiten gemacht, die nicht mit einer einzigen
Salve am Odeonplatz zu erledigen gewesen wären. Und wenn den
deutschen Arbeitern in Nord und Süd, in Ost und West des Reiches
nur der dritte Teil jener Macht zur Verfügung stände, die die konter-
revolutionären Organisationen in bezug auf Bewaffnung und Aus-
bildung haben, dann wäre es um das Schicksal der deutschen Revo-
lution wahrhafteig [sic!] nicht schlecht bestellt.
Insgesamt kann der Vergleich Hamburg-München nur das eine
ergeben, daß in der deutschen Arbeiterklasse trotz Niederlage und
Verrat, trotz Lethargie und Indifferenz, die hervorgerufen worden sind
durch die schwächliche und feige Haltung einer am Organisationsapparat
klebenden sozialdemokratischen Führung, Energien schlummern, die ans
Licht des Tages gehoben und zur kühnen Entfaltung gebracht, die Lage
der deutschen Arbeiterklasse wenden und sie zum ausschlaggebenden
Faktor der deutschen Politik machen könnten.
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Stadtarchiv Solingen (30. November 2023). 30. November 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 24. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/ag26