Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 24. November 1923
Die Stadtverwaltung Solingen informiert über die neuen Maßnahmen zur Linderung der sozialen Not, nachdem die Regierung höhere Barzahlungen an die Erwerbslosen untersagt hat. Volksküchen sollen nun die Ernährung der Bedürftigen im Solinger Industriebezirk sicherstellen.
Der furchtbare Ernst der Lage.
Von der Stadtverwaltung wird uns geschrieben:
Das Erwerbslosenproblem ist seit Monaten der Zentralpunkt,
um den sich die Sorge und die Tätigkeit der Kommunalverwaltun-
gen gruppiert. Eine Erwerbslosigkeit von dem Umfange und der
Zeitdauer der gegenwärtigen muß ganz zwangsläufig hemmend und
lähmend in alle Zweige der Kommunalwirtschaft eingreifen, ihre
Finanzen zerrütten und die Lebensmittelversorgung in Frage
stellen.
In dem besetzten Gebiet ist die Lage deshalb besonders schwie-
rig geworden, weil die Preise aller Lebens- und Bedarfsmittel um
ein Vielfaches oft höher waren und noch sind als im unbesetzten Ge-
biet, und so eine ungeheure Not erzeugt haben, die von den Stadt-
verwaltungen durch Ueberzahlungen aus städtischen Mitteln gemil-
dert zu werden versucht wurde. Die Regierung hat nun unter An-
drohung der Sperrung der staatlichen Zuschüsse derartige Ueber-
zahlungen verboten, gleichfalls den Druck von Stadtgeld, mit dem die
Ueberzahlungen erfolgten. Das Bekanntwerden dieser Tatsachen hat
eine begreifliche Erregung unter den Erwerbslsosen hervorgerufen
und zu wiederholten Demonstrationen geführt.
Die Städtevertreter haben kein Mittel unversucht gelassen, der
Not zu steuern und bei der Regierung eine Milderung ihrer Haltung
zu erzielen. Das letztere war nicht möglich.
In einer Reihe von Besprechungen der Bürgermeister des oberen
Kreises sind nun Richtlinien für die Erwerbslosenfürsorge angenom-
men worden, die eine gewisse Einheitlichkeit in dieser Frage ermög-
lichen. Die Städtevertreter waren sich einig darin, daß eine weit-
gehende soziale Fürsorge helfend eingreifen müssee [sic!] Die staatlichen
Unterstützungssätze werden ideen [sic!] Mittwoch als Vorschuß, Samstags
als Schlußzablung gewährt. Ueberzahlungen in Papier finden nicht
statt, an die Stelle des Papiers tritt die Unterstützung der Bedürfti-
gen in Form von Naturalien. Soweit Volksküchen bestehen, sollen
sie ausgebaut und möglichst allen Erwerbslosen zugänglich gemacht
werden. Für Ohligs ist die Anordnung bereits ergangen, daß
sämtliche Erwerbslose aus der Volksküche gespeist werden sollen, wäh-
rend bisher nur Ledige ohne Hausstand, Erwerbslose mit 3 und
mehr Kindern und vom Wohlfahrtsamt als besonders bedürftig an-
erkannte Personen durch die Volksküche gespeist werden konnten. Das
Essen ist gut und außerordentlich nahrhaft und wird von den die
Volksküche Benutzenden gelobt. Es wird auch fernerhin Wert auf
gutes und nahrhaftes Essen gelegt werden. Bei einer gesteigerten
Inanspruchnahme wird das Essen in Kesseln in die verschiedenen
Stadtteile gefahren und dort ausgegeben, so daß es in der Wohnung
genossen werden kann. Die an der Volksküche gespeisten Personen
nehmen das Essen in einem leicht durchwärmten Raum der Schützen-
burg ein. Eine Aufsichtskommission sorgt für die notwendige Ruhe
und Ordnung. Daneben werden von Zeit zu Zeit, möglichst jede
Woche, billige Lebensmittel aus den angekauften Beständen ausge-
geben. Die Abgabe besonderer Zuwendungen erfolgt nach vorheriger
Prüfung der Bedürftigkeit, um dadurch einem Mißbrauch der so-
zialen Einrichtungen vorzubeugen. Arbeitsamt und Wohlfahrts-
amt arbeiten in allen diesen Fragen mit ihren Organen Hand in
Hand. Weibliche Helferinnen aus allen Kreisen der Bevölkerung
und Parteien sind erwünscht.
Um einen Mißbrauch der Unterstützung zu verhindern, was nur
durch eine strenge Prüfung erfolgen kann, werden die bisherigen
Entlassungsscheine demnächst eingezogen und allen Unterstützungs-
empfängern besonders ausgearbeitete neue Scheine übergeben, die
von den Arbeitgebern ausgefüllt und unterzeichnet, durch die Er-
werbslosen dem Arbeitsamt übergeben werden müssen.
Ferner ist eine Sammlung von freiwilligen Gaben, Lebens-
mitteln, Kleidern, Schuhen, Bedarfsgegenständen eingeleitet, die noch
nicht abgeschlossen ist, bisher aber immerhin erfreuliche Resultate ge-
zeitigt hat. Die gesammelten Sachen werden laufend zunächst an die
Allerbedürftigsten abgegeben. Die Gelegenheit, das soziale Herz und
Gefühl zu zeigen, ist somit jedem Besitzenden gegeben.
Mit den maßgebenden Vertretern der Industrie, des Handels
und Verkehrs hat eine Sitzung stattgefunden zwecks Besprechung zur
Linderung des Erwerbslosenelends. Im Vordergrund stand die
Aufnahme der Arbeit in den Betrieben, ferner die
Unterstützung durch freiwillige Abgabe von wertbeständigen Zah-
lungsmitteln zur Unterstützung der städtischen Hilfsmaßnahmen. In
der ersten Frage war nur ein geringer Erfolg zu verzeichnen (Durch
die Halsstarrigkeit der Unternehmer. Red.), bezüglich der zweiten
Frage muß das Ergebnis abgewartet werden. Die anwesenden Ver-
treter erklärten sich bereit, in ihren Kreisen im Sinne der Vorschläge
der Verwaltung zu wirken.
Der furchtbare Ernst der Lage ist allgemein bekannt und die
letzten Ereignisse haben die Situation grell beleuchtet. Nur wenn
jeder, der noch nicht von der Not der Zeit erfaßt ist, bis an die Grenze
der sozialen Leistung geht und mithilft, dem Elend zu steuern, wird
es möglich sein, ohne schwere Erschütterungen und soziale Zuckungen
über die nächsten Monate hinwegzukommen.
OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Stadtarchiv Solingen (24. November 2023). 24. November 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 15. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/ag22