Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 6. November 1923

Bemerkenswerter Bericht von einer großen Erwerbslosenversammlung in Wald: Während die erste dort verabschiedete Resolution den Vorstellungen der KPD entsprach, zeigten sich in der zweiten Willensäußerung der Versammlung aktivistisch-anarchistische Tendenzen, von denen sich die „Bergische Arbeiterstimme“ dezent zu distanzieren versuchte.

                                                  Wald.
                Eine große Erwerbslosenversammlung
tagte am Freitagnachmittag im Lokale Schmidt, Mangenberg.
Genosse Schubert-Wald referierte über die wirtschaftliche Lage
der Arbeiterschaft im allgemeinen und der Erwerbslosen im beson-
deren. Tag für Tag sinkt das Proletariat tiefer und tiefer in das
Elend hinein. Immer größer wird die Verzweiflung der sich här-
menden Eltern. Mittlerweile sei es so, daß wir wünschten, die
russischen Zustände, vor denen man uns so angst und bange ge-
macht hat, auch in unserem Lande zu haben, denn dort verdient
ein Arbeiter 80 Prozent des Friedensreallohnes, wogegen der
Lohn des deutschen Arbeiters (lies Kuli) auf 10 bis 20 Prozent des
Friedenslohnes gesunken ist. An diesem Elend kann nur die Ar-
beiter- und Bauernregierung, die Regierung der Werktätigen, etwas
ändern, deren Erringung aber jetzt durch den Verrat der SPD.
wieder auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben ist.
   Es wurden folgende Resolutionen angenommen, um den
Willen der Versammelten kundzutun:
   „Die am heutigen Tage, am 2. November 1923, auf dem Man-
genberg tagende Versammlung der hungernden Erwerbslosen der
Stadt Wald erklärt sich mit den Brüdern und Genossen des
Sachsenlandes solidarisch.
   Der Verrat der Mehrheitler muß mit einem unbefristeten
Generalstreik auf der ganzen Linie beantwortet werden. Nicht
Worte, sondern Taten müssen beweisen, wie die Masse gesonnen ist
und was sie will, um aus dem Zwange und den Klauen des Ka-
pitals und der Judasse herauszukommen. Dem Morgenrot folgend,
unseren Brüdern in Rußland entgegen.
   Es wird hohe Zeit, daß aufgeräumt wird. Sollten die Gewerk-
schaften fernerhin noch Passivität hegen, dann heraus zur Aktivität,
und wenn nötig, über die Köpfe derselben hinweg. Der Hunger
und das Elend sind groß genug, um endlich davon befreit zu wer-
den. Darum auf zum Kampf um unser nacktes Dasein. Auf,
Brüder und Genossen!“
                                               *
„Die heutige Versammlung verurteilt das ganze Gebaren der
kapitalistischen Gesellschaft. Der ganze Apparat ist bankrott. Die
Arbeiterschaft von Wald fordert von der Kommune, wenn sie
nicht mehr bestehen kann, zurückzutreten, und an deren Stelle die
Arbeiter mit vollen Rechten einzusetzen. Nur dann ist es möglich,
andere Verhältnisse zu schaffen, die die Arbeiter aus ihrem Elend
herausführen“.
   Nichts ist mehr zu verwerfen, aber auch nichts so verständlich
als letzteres. Diese Gesellschaft von Ausbeutern, Vampiren —
kein Wort ist zu scharf — treibt die hungernde Masse ja in die
Verzweiflung hinein. Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Und
dieser Sturm wird einem Orkan gleichen.
   Als 2. Punkt der Tagesordnung sollte die Kartoffelfrage
erledigt werden. Die Stadtverwaltung hat sich bereit erklärt, je
nach Kopfzahl den Erwerbslosen 1 bis 4 Zentner Kartoffeln wert-
beständig zu liefern. Dieses wurde glatt abgewiesen. Ist die Stadt-
verwaltung in der Lage, die Unterstützungssätze wertbeständig nach-
zuzahlen? Es soll in weitere Verhandlungen eingetreten werden.
   Weiter die Milchfrage im Interesse der Säuglinge. Es
wurde so schön betont, daß die Landwirte sich bereit erklärt hätten,
zur Verbilligung der Milch an Erwerbslose pro milchende Kuh eine
einmalige Abgabe von sage und schreibe 6 Milliarden Mark am
Sonntag einsammeln zu lassen. Was sind das für „große“ Summen
bei einem Dollarstande von 1 Billion und 200 Milliarden? Außer-
dem wurden Angaben von seiten der Landwirte gemacht, die jeder
Beschreibung spotten. Es wurde festgestellt, daß sie pro Kuh höchstens
1 bis 2 Liter abgeben. Mehr gäbe eine Kuh in dieser Jahreszeit
nicht mehr. Aber die Frauen der Besitzenden bekommen ein größeres
Quantum. Es ist höchste Zeit, daß mit diesen Zuständen aufge-
räumt wird.
   Die Sammlungen bei den Fabrikanten, Kleingewerbe-
treibenden und Bauern. Die Bäcker haben sich bereit erklärt, an die
Erwerbslosen Brot unentgelltich [sic!] abzugeben. Die Industrie er-
klärte, die Erwerbslosen könnten froh sein, daß es überhaupt zur
Verhandlung gekommen wäre. Es soll bei der Verwaltung die
Bitte um Genehmigung einer Sammlung gestellt werden. Sollte
alles dieses nichts helfen, so schließt der Bericht, dann sehen sich die
Erwerbslosen gezwungen, ihren Lebensunterhalt da zu holen, wo
er ist.