Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 5. November 1923
„Das Gebot der Stunde“: Umfangreicher kommentierender Bericht über die große Kundgebung in der Solinger Stadthalle mit den Referenten Hermann Merkel (VSPD) aus Solingen und Schneider (KPD) aus Köln.
Freie Bahn zur einheitlichen proletarischen Aktion!
Am Samstagnachmittag fanden in allen größeren Orten
des Kreises Solingen große öffentliche Volksversammlungen
statt mit dem Thema: „Das Gebot der Stunde“.
In der „Stadthalle“ zu Solingen saß und stand die Menge
Kopf an Kopf, um den Ausführungen der Genossen Merkel
und Schneider – Köln zu lauschen. Ersterer begann sein
Referat u. a. mit den Worten: „Die Große Koalition ist zu-
sammengebrochen! (Lebh[aftes] Bravo!) Und dies hochbedeutsame
politische Ereignis im Reichskabinett wird sich weiter auswirken
auf die Regierungen in Preußen, Sachsen, Thüringen usw.
Trotz alledem sei hervorgehoben, daß das sozialistische Prole-
tariat Deutschlands ein bedeutsamer Faktor ist, besonders in
Sachsen und Thüringen. Die Bourgeo[i]sie verkennt indessen die
gewaltige Macht des revolutionären Proletariats, sie will dem-
selben nicht das ihm zustehende Recht einräumen. Die Bour-
geoisie Deutschlands ist ganz aus dem Häuschen geraten, weil
in Sachsen zwei wirkliche leibhaftige Kommunisten in
die Regierung eingetreten sind. Das erschien den
Herrschaften ganz ungeheuerlich. Es wurde deshalb gegen
Sachsen eine grauenhafte Reichsexekutive eingeleitet, während
die Reichsregierung gegenüber dem durch und durch reaktio-
nären Treiben in Bayern tatenlos und ratlos zusieht. Das
ganze Verhalten der Reichsregierung bedeutet eine
Schändung der Demokratie!
(Sehr richtig!) Eine ungeheure Erbitterung geht durch das
Proletariat, das man als Parias betrachtet. Doch es wird es
nicht dulden, daß man seine freiheitlichen und politischen Er-
rungenschaften durch den Kommißstiefel zertrampelt. Das
Proletariat steht zum letzten Ansturm gerüstet.
Die Tage des kapitalistischen Systems sind gezählt, denn die
Arbeiterschaft wie alle jene Schichten der Bevölkerung, die
unter dem großen Druck der kapitalistischen Machthaber zu
leiden haben, stehen da in vollster Geschlossenheit als ein-
heitliche Klasse. Die sozialdemokratischen Genossen wer-
den und müssen sich nun zusammenballen zu einer scharfen
Frontstellung mit unsern Genossen von links, den Kommu-
nisten. Wir kämpfen nicht für das Schemen einer Republik,
sondern für den sozialen Inhalt einer Republik, für die
Wohlfahrt aller Menschen! Bei einer Rechtsdiktatur
kommt sicher der Zusammenfall des ganzen Reiches. Das
aber gilt es zu verhindern mit allen Mitteln.
Wir haben gemeinsam den Kampf zu führen
gegen den Raub des Achtstundentages, für
die Befreiung aus den Fesseln des kapita-
listischen Systems.
(Lebhaftes Bravo!) Wir rufen der bürgerlichen Gesellschaft
zu: Gedenke, daß du sterben mußt. Und das leidende prole-
tarische Volk, das den Becher bis zur Neige geleert, wird aus
diesem bevorstehenden schweren Kampfe hervorgehen gleich dem
Phönix aus der Asche! (Lebhaftes Bravo!)
Es soll nun gewiß nicht geleugnet werden, daß sowohl
Merkel wie auch noch manch anderer sozialdemokratischer
Führer es vielleicht endlich satt sind, mit den schlimmsten
Feinden der Arbeiterschaft fernerhin noch zu paktieren. Mag
sein, daß einer Anzahl von den Koalitionsphantasten nun
endlich die Schamröte ins Gesicht gestiegen seit dem brutalen
Vorgehen in Sachsen. Aber die Arbeitermassen vermögen das
immer wieder genährte Mißtrauen gegen gewisse sozialdemo-
kratische Führer nicht so leicht loszuwerden. Klang doch auch
aus der Rede Merkels an einigen Stellen recht merklich ein
gewisser Pessimismus hindurch, gleichsam, als habe er fast den
Glauben an die Kraft des Proletariats verloren. War es
vielleicht der fürchterliche Gedanke des Schuldbewußtseins, das
die VSPD. auf sich geladen hat? Es schien uns fast so,
ganz besonders auffallend war uns dies, als M. fast wehmütig
klagte, daß die Reaktion bis an die Zähne bewaffnet dastehe,
während das Proletariat entwaffnet und ringsum von Feinden
umlagert sei. Das bedeutete eine bittere Selbstanklage der
Führer, die — früher unschlüssig und zaghaft — heute von
rechts und links verlassen, sich bedroht fühlen zwischen Szylla
und Charybdis.
Zuversichtlich und siegesbewußt dahingegen
fühlen sich die Kommunisten und mit ihnen wohl die größte
Mehrzahl der sozialdemokratischen Massen. Bei ihnen hat sich
längst die Erkenntnis durchgerungen, daß es gilt zu kämpfen,
zu siegen oder zu sterben gegen alle Niedertracht des über-
mütigen Großkapitals. Zu kämpfen mit denselben Mitteln wie
auch jene, in geschlossener Phalanx aller Bedrückten und Ent-
rechteten gegen den kapitalistischen Troß. Das brachte denn
auch Genosse Schneider-Köln in seinem Korreferat recht
treffend zum Ausdruck. Er begrüßte es sehr unter der leb-
haften Zustimmung der Versammlung, daß die große Koalition
nun tot, der Nebel endlich verschwunden sei. Das Proletariat
Deutschlands hat es sicherlich freudig vernommen, daß dieser
Spuk zu Ende ist! Was war denn auch der Erfolg der
ganzen Koalitionspolitik der Sozialdemokratie? Nichts! Im
Gegenteil, dem Proletariat wurde eine Verschlechterung nach
der andern beschert. Ja, selbst die letzte und heiligste Er-
rungenschaft vom November 1918 soll nun zertrümmert
werden. Der Achtstundentag ist in höchster Gefahr! Heute
herrscht dazu in Deutschland nichts anderes
als die brutalste weiße Diktatur!
Das Firmenschild der Demokratie
in der Deutschen Republik ist ausgewischt!
Der deutsche Staat liegt in den letzten Zügen und schon
sammeln sich die Aasgeier ringsum. Blicken wir nach
Schleswig-Holstein, wo auch die Dänen wieder auf dem
Sprunge stehen, oder besehen wir uns die sicher nicht zu
unterschätzenden Komödien der Sonderbündler im Westen und
im Süden. Ueberall Zeichen der Verwesung, der Auflösung
des einst so stolzen Deutschen Reiches. Das ist der Fluch der
bösen Tat — der jahrzehntelangen imperialistischen Raubpolitik
der kapitalistischen Machthaber! Eine kleine Kaste Volks-
betrüger hat sich gemästet vor dem Kriege und während
desselben. Und selbst noch nachher bis auf den heutigen
Tag, da das Proletariat sich in tiefstem Elend und in
Hungerqualen windet, kennen die kapitalistischen Blut-
sauger kein Erbarmen. Arme Menschen brechen vor
Hunger auf der Straße zusammen, täglich, überall
in allen Gegenden Deutschlands. Das Arbeitslosen-
heer zählt bereits viele Millionen, und trotzdem
verlangt das Ausbeutertum Mehrarbeit bei vorgetäuschten
„Goldlöhnen“. Dagegen wehrt sich die Arbeiterschaft mit
Zähnen und Nägeln.
Bis hierher und nicht weiter!
So hallt der Verzweiflungsschrei durch die Lande, und stür-
misch drängen die Massen zum ernsthaften
Kampf, zur Endabrechnung mit ihren Peini-
gern. Die heutige Situation ist ungeheuer ernst, schon stehen
die Hitlerbanden in Bayern auf dem Sprunge, um unter dem
Szepter Ludendorffs in ganz Deutschland die Rechtsdiktatur zu
errichten.
Zu viel ist es für die Arbeiter des Ruhrgebiets, was man
ihnen nach der Schreckenszeit der Ruhrbesetzung heute wiederum
zumutet. Zu viel ist es, was man an Unverschämtheiten gegen
die Arbeitslosen ausgeheckt hat. Fassen wir alle Kräfte
zusammen zum letzten Kampf! Wir haben keine
Zeit mehr zu verlieren, denn nur noch kurze Zeit, dann wird
uns der Kampf aufgezwungen werden. Die deutsche Arbeiter-
klasse muß sich endlich aufraffen zur Einheitsfront, zur ge-
schlossenen Kampffront!
Noch einige Redner forderten gleichfalls höchste Alarm-
bereitschaft und schilderten in grauenhaften Bildern die entsetz-
liche Not und Verzweiflung in den Familien der werk-
tätigen Klasse.
Nachdem Genosse Rahm noch auf die Schädlichkeit der
bürgerlichen Presse hingewiesen hatte, mit der Aufforderung, die
Arbeiterzeitungen zu lesen, fand nachstehende Entschließung
einstimmige Annahme:
„Die in der Stadthalle zu Solingen versammelten
Angehörigen beider proletarischen Parteien begrüßen
die durch den Zusammenbruch der großen Koalition
geschaffene Klarheit. Der Weg zur einheitlichen
proletarischen Aktion ist dadurch freigeworden.
Die wirtschaftliche und politische Lage der Arbeiter-
klasse erfordert den Willen zum schärfsten Klassen-
kampf. Die Versammelten geloben, in treuer Ar-
beitsgemeinschaft diesen Kampf zu führen.“
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Stadtarchiv Solingen (5. November 2023). 5. November 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 9. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/ag1a