1. November 1923

Quelle: Stadtarchiv Troisdorf, Pressesammlung: Siegburger Kreisblatt vom 1. November 1923

Der Konflikt mit Sachsen und Bayern stellt die Reichsregierung vor ein Dilemma.

   Der Reichskrieg gegen zwei Fronten.
                            Ein Dilemma.

   Ein Mitarbeiter hatte eine Unterredung mit
einem maßgebenden Beamten der Reichsregie-
rung. Das Gespräch verlief nicht ohne Zwie-
spalt. Wenn zwei Juristen über einen schwie-
rigen Fall streiten, entstehen bekanntlich drei
Meinungen. Kommt auch noch die Politik hinzu
so erscheint der Knoten unentwirrbar. Trotzdem
wollen wir versuchen, eine ganz unparteiische Dar-
stellung des Reichskrieges gegen Sachsen und
Bayern zu geben: Das Dresdener Kabinett Zeig-
ner hat sich geweigert, auf die Berliner Auffor-
derung hin ohne weiteres abzudanken, weil abge-
sehen von der Widerrechtlichkeit des Berliner
Schrittes der politische Anlaß fehle. Beides wird
an amtlicher Stelle in Berlin bestritten. Der
Rechtsstandpunkt der Reichsregierung ist der des
Artikel 48 Absatz 1 der Reichsverfassung. Die
Reichsregierung leitet aber ihre Befugnis, eine
Landesregierung abzusetzen, aus dem Sinn des
Artikel 48 ab. Sie tut es Sachsen gegenüber
mit Hilfe der bewaffneten Macht. Aber Bayern
gegenüber?


   Die zuständigen Stellen in Berlin wünschen
nicht, daß man in der öffentlichen Meinung die
beiden Fälle als vollständig gleichgelagert be-
trachtet. In Bayern handelt es sich nicht um
Ruhestörungen und Gewalttaten, wie in Sach-
sen. Leib, Leben und Eigentum sind in Bayern
nicht gefährdet. Berlin spielt gegen München
nicht die bewaffnete Macht aus. Sie forderte
nicht die Absetzung der Landesregierung, sondern
sie verlangte, daß die verfassungsmäßige Befehls-
gewalt im bayerischen Teile der Reichswehr wie-
der hergestellt werde. Das ist also ganz etwas
anderes. Allerdings soll die Note, die man
nach München schickte, mindestens „ebenso scharf“
gelautet haben, wie die nach Dresden gerichtete.
Warum aber wurde das Ultimatum für Bayern
in der amtlichen Verkündigung so kurz und ver-
schleiert gehalten? Warum ist man nicht ganz
offen gewesen? Und wozu die nachträgliche Andeu-
tung, daß Bayern mit gleich scharfem Maße
gemessen werde wie Sachsen? Sollte dies eine
Konzession sein, an die Wünsche einer Koali-
tionspartei, nämlich der Sozialdemokratie?
   In ihrem Vorgehen gegen Bayern beruft sich
die Reichsregierung auf die Beschlüsse der jüng-
sten „Reichsratssitzung“. Unseres Wissens war
es nur eine Zusammenkunft der Minister und
Gesandten der Länder; nicht eine formelle Sit-
zung des Reichsrates. Man vermied das ab-
sichtlich, weil man sich über die Zuständigkeit
des Reichsrates nicht einig war. Gewiß wohnt
auch so jenen Beschlüssen eine gewisse Autorität
bei. Aber eine verfassungsmäßige und gesetzliche
Aktion, auf die sich nun die Reichsregierung mit
voller Wucht stürzen könnte, war es nicht. Wenn
also in Berliner Amtsstellen bereits von Konse-
quenzen gesprochen wird, denen sich die Münche-
ner Regierung fügen müsse, weil sie die sog.
Reichsratssitzung gebilligt und beschickt habe, so
eilt dieser Wunsch der Reichsregierung den ge-
gebenen Tatsachen und den vorhandenen Schwie-
rigkeiten in begreiflicher Ungeduld voraus. So
schnell schießen die Preußen nicht und auch nicht
die Bayern. Man wird die Beschlüsse des baye-
rischen Ministerrats abwarten müssen. Und hat
die Volksvertretung in Bayern gar nichts zu
sagen?
Zurück zu Sachsen: Im Berliner Kabinett
steht man auf dem Standpunkt, daß das Vor-
gehen gegen Dresden lediglich zur Aufrechterhal-
tung der Ruhe und Ordnung nicht im Zusam-
menhang mit irgendwelchen politischen Erwägun-
gen erfolgen mußte. Zum Beweise wird geltend
gemacht, daß die Sozialdemokraten, die der
Reichsregierung angehören, dem scharfen Vorge-
hen gegen Sachsen zugestimmt hätten. Es handle
sich eben um Polizeinotwendigkeiten, nicht um
parteipolitische Dinge. Aber die Haltung des
Berliner Vorwärts und die heftigen Auseinander-
setzungen, die seit drei Tagen innerhalb der
VDSP. trotz aller Vertuschungsversuche deut-
lich zu bemerken sind, lassen auf schwere Kämpfe
schließen, die der Reichskanzler innerhalb seines
Kabinetts zu bestehen hat. Warum hat man die
Kampagne gegen München und Dresden so un-
trennbar mit einander verkoppelt? Die falsche
Parallele, die einem nun ständig vor Augen
steht, führt zu einer unglücklichen Verwirrung
der Begriffe. Und die angebliche Gerechtigkeit
und Parität, die jetzt geübt werden muß, öffnet
den politischen Eigenschaften Tür und Tor. Dr.
Stresemann ist um seine Aufgabe, neben allen
anderen Sorgen und Nöten der Kanzlerschaft
nun auch den Reichkrieg gegen zwei Fron-
ten zu führen, wirklich nicht zu beneiden. Hier
sind nicht zwei Fliegen auf einen Schlag zu
treffen, sondern hier ist ein Dilemma. Wieder-
herausfinden?

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Stadtarchiv Troisdorf (1. November 2023). 1. November 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 17. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/ag0z


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