Quelle: Kreisarchiv Euskirchen, Unterhaltungsblatt und Anzeiger für den Kreis Schleiden und Umgegend (Amtliches Kreisblatt) vom 27. Oktober 1923

Ausrufung der Rheinischen Republik in Aachen

Ausrufung der rheinischen Republik in Aachen.
Aachen , 21 Okt[ober] Bewaffnete Sonderbündler,
deren Zahl auf 2000 geschätzt wird, haben heute
nacht überraschend die öffentlich Gebäude Aachens,
darunter das Rathaus, die Regierung und die
Post, besetzt. Bisher herrscht in der Stadt Ruhe,
die telephonischen Verbindungen Köln-Aachen
sind unterbrochen.
Am Abend waren auch die telephonischen Ver-
bindungen nach Eschweiler, Jülich und Stolberg
unterbrochen.
nach Mitteilungen, die das Wolff-Bureau um
1 Uhr mittags erhielt, herrschte in Bonn, Koblenz,
Trier, Düren, Düsseldorf, Reuß usw. vollkommene
Ruhe.

Hierzu meldet das MTB.-Büro:
Schon in den letzten Tagen hatten sich die Ge-
rüchte immer mehr verdichtet, daß zu Beginn der
kommenden Woche die Rheinische Republik aus-
gerufen werden soll. Es waren sogar schon be-
stimmte Einzelheiten über die Bewaffnung, die
Organisation des Umsturz, die Besetzung von
Posten usw. bekannt geworden. Samstagabend
war der Bevölkerung fast zur Gewißheit geworden,
daß etwas bevorstehe. Lebensmittel wurden in
letzter Stunde noch gehamstert, da man eine Ver-
kehrssperre befürchtete. Die Papiermark wurde
abgestoßen und Franken und Gulden eingewechselt.
In der Nacht von Samstag auf Sonntag nach
2 Uhr morgens erschienen plötzlich bewaffnete Trupps
der Sonderbündler auf dem Polizeipräsidium und
besetzten es, ohne daß von der Polizei Widerstand
geleistet wurde. Beim Leiter des gegen Plünderung
und Einbruch gebildeten bürgerlichen Selbstschutzes
erschien darauf ein Mann, der sich als Beamter
der belgischen Sicherheitspolizei ausgab und ver-
langte, daß sämtliche Posten des Selbstschutzes
sofort eingezogen würden. Um 3 Uhr durfte niemand
mehr auf der Straße sein. Das geschah. Gegen
3 Uhr zogen truppenweise die Sonderbündler mit
Waffen auf den Marktplatz und von hier ins
Rathaus. Im Kaisersaal der Aachener Rathauses
wurde dann um 3 Uhr von dem bekannten früheren
Freund und jetzigem Gegner Smeets, Leo Decker-
Aachen die Rheinische Republik proklamiert. Als
die Aachener Bevölkerung am Morgen in die
Straßen kam, sah sie von den öffentlichen Ge-
bäuden die grün-weiß-rote Flagge wehen. Plakate
waren angeschlagen, die mit der Ueberschrift:
„Rheinländer! Die Stunde der Freiheit hat ge-
schlagen!“ mitteilten, daß die unabhängige rheinische
Republik gegründet worden sei, und daß sie in
Frieden und Freundschaft mit den Nachbarstaaten
leben wolle. Unterzeichnet sind die Aufrufe von
Leo Decker und Guthardt. Der Portier eines
Restaurants, der den Plakatanklebern erklärte, er
dürfe im Auftrag seiner Direktion keine Plakate
am Hause dulden, wurde ohne weiteres erschossen.
Die Regierung, Post, Telegraphenamt, Rahaus,
Polizeipräsidium sind von Separatisten besetzt.
Der Telephon- und Vorsteher ist vollständig
gesperrt. Ueber das Verhalten der Polizei weiß
man nichts Genaues. Sie tut ihren Dienst weiter.
    Da man nur von den Arbeitern ernsthaften
Widerstand befrchtete, hat man rasch die
Führer entfernt, um auch die Arbeiterschaft kopf-
los zu machen. Im übrigen hat die Besatzung
bisher nicht aktiv eingegriffen.
    Ueber den Umfang der Bewegung tappt die
Bevölkerung ganz im Dunkel, da Aachen voll-
ständig von der Umgebung abgeschnitten ist.
     Schon in den frühen Morgenstunden gingen
die Verhandlungen wieder hin und her. Es at
den Anschein, als ob im Anfang der Bewegung
auf Seiten der Behörde eine gewisse Führerlosig-
keit herrschte. Bei den Gewerkschaften, die sich
von dem am Samstag gegen sie geführten Schlag
der Ausweisung ihrer Führer erholt haben, wurde
im Laufe des Tages der Generalstreik erwogen.
Doch ist es glücklicherweise politischer Vernunft
und gefundem Menschenverstand gelungen, dies
zu verhindern, da ein Generalstreik im Augenblick
das Einschreiten der belgischen Besatzungsbehörde
nach sich gezogen hätte. Diese und die Beamten-
organisationen gaben im Laufe des Tages die
Parole heraus: „Mit den Separatisten wird nicht
paktiert. Gegen die Besetzung der Dienststellen
wird Protest erhoben.“
Der Parole ist Folge geleistet worden. Im
Postamt wird nur zur Verhinderung heilloser
Wirrnis der innere Dienst aufrecht erhalten. Im
übrigen verlangt die Postbeamtenschaft die Ein-
ziehung der Sonderbundfahne. Die Reichsbank
feiert. Einen hier erscheinenden Bündlertrupp
verwies der Leiter an die belgische Besatzungsbe-
hörde, die lediglich über die noch vorhandenen
„beschlagnahmten Gelder“ verfügen könne. Gegen
Mittag wurde das Postamt von Sonderbündlern
geräumt.