Quelle: Stadtarchiv Troisdorf, Pressesammlung: Siegburger Kreisblatt vom 10. Oktober 1923
Der britische Außenminister George Curzon kritisiere in seiner Rede die alliierte, insbesondere die französische Politik gegenüber Deutschland, was Reparationsforderungen und Ruhrbesetzung anbelangt.
Curzons Wink.
Von einem Außenpolitiker.
Englands Außenminister Lord Curzon hat am
Freitag voriger Woche in der Sitzung der bri-
tischen Reichskonferenz eine Rede gehalten, mit
der man sich längere Zeit wird beschäftigen müs-
sen. Die Rede sollte ursprünglich nicht ver-
öffentlicht werden. Da aber die Premiermini-
ster der Dominions keinen Geheimklub bilden
und die ganze Welt in diesen tollen Zeiten ein
starkes Bedürfnis nach diplomatischer Offenheit
hat, gab man wenigstens einige Bruchstücke der
dreistündigen Rede an die Presse ab. Diese Bruch-
stücke enthalten gerade den kritischen Teil der
Curzonschen Ausführungen. Man kann von ih-
nen auf das Positive, auf die nächsten Pläne und
Absichten der Londoner Regierung schließen. Der
Friede von Lausanne und die türkische Frage bie-
ten zwar für Deutschland in seinen heutigen Nö-
ten weniger Interesse, um so wichtiger sind die
Abschnitte über Reparation und Ruhrkonflikt,
die schätzungsweise den vierten Teil der ganzen
Curzonschen Rede umfassen.
Der Außenminister des konservativen Kabi-
netts Baldwin hat sich die seltene Gelegenheit ei-
ner britischen Reichskonferenz nicht entgehen las-
sen, um auf das heftigste gegen Lloyd George
zu polemisieren, obwohl er den Namen des libe-
ralen Koalitions- und Kriegspremiers an keiner
Stelle nennt. Curzon kam es offenbar darauf an,
jor den Ministerpräsidenten der Donien und
vor der Welt zu beweisen, daß nicht die Außen-
politik der konservativen Kabinette und insbeson-
dere nicht seine, Curzons, Politik für das heutige
europäische Durcheinander verantwortlich ge-
macht werden dürfte. Umso schlechter kam –
Frankreich und besonders Poincare weg, gegen
den sich ebenfalls ohne Namensnennung, die
Curzonsche Philippika mit bemerkenswerter
Schärfe wendet. Curzon erinnerte, wohl nicht
ohne boshaftes Schmunzeln, die Reichskonferenz
an die Freude, die sie vor zwei Jahren empfun-
den habe, als es den Alliierten gelungen sei,
Deutschland eine Reparationsschuld von 132 Mil-
liarden durch das Mai-Ultimatum aufzuhalsen,
eine wörtlich: „ganz unmögliche Summe, von
der kein vernünftiger Mensch erwartet, daß
Deutschland sie in vollem Umfange werde bezah-
len können und die – leider – nur mit Zu-
stimmung aller Großmächte abzuändern ist.“
Und nun folgt ein Hieb auf den anderen. Eng-
land hat in Cannes, London und Paris alles ver-
sucht, um die Wahnsinnssumme der beschränk-
ten Leistungsfähigkeit Deutschlands anzupassen.
Frankreich blieb hart, schrie nach produktiven
Pfändern und legte sich schließlich auf eine For-
derung von 26 Milliarden Goldmark und die
Beträge darüber hinaus fest, die es in Zukunft
zur Rückzahlung seiner Auslandsschulden werde
aufbringen müssen. Dann kam das Ruhraben-
teuer. Curzon stellte fest, daß die übertriebenen
französischen Hoffnungen nicht in Erfüllung ge-
gangen sind. Die Sachleistungen blieben aus.
Der passive Widerstand setzte mit einer Hart-
näckigkeit u. Erbitterung ein, die niemand voraus
gesehen hatte. Und wiederum wörtlich: „Je kost-
spieliger und nachgiebiger die Besetzung wurde,
desto härter wurde die Behandlung der Bewohner
durch die französisch-belgische Besatzung“.
Das sind Keulenschläge gegen die alliierten
Freunde. Cuzron suchte sie dadurch etwas abzu-
mildern, daß er andeutete, England habe den
Standpunkt seiner Kronjuristen, wonach die Ruhr-
besetzung unrechtmäßig sei, nur vorgebracht, als
Poincare die Rechtmäßigkeit seiner Maßnahmen
betont habe. England habe nicht für Deutsch-
land Parttei ergriffen, sondern nur aus „prakti-
schen Gründen“ und mit zunehmender Besorgnis
festgestellt, daß die französische Politik, zur Ka-
tastrophe und zum Ruin führen müsse. Curzon
nennt den verlängerten Ruhrwiderstand sehr un-
klug, aber er muß selbst zugeben, daß keine deut-
sche Regierung, die vorzeitig kapituliert hätte,
im Amte geblieben wäre und daß ja auch Reichs-
kanzler Stresemann der Mut und Klugheit zu
diesem Schritte besessen habe, in seiner Stellung
erschüttert worden ist. Aber alle diese Einschrän-
kungen der Curzonschen Kritik gegenüber Frank-
reich und Belgien münden in dem höchst bitteren
Satz: „Wir beneiden unsere Alliierten nicht um
ihren Sieg, wenn es überhaupt Sieg war!“ Cur-
zon sieht den Anfang der inneren Auflösung
Deutschlands und deren „furchtbare wirtschaft-
schaftliche Bedeutung“. Er winkt vor den Ver-
tretern der britischen Weltmacht förmlich mit
dem Zaunpfahl. Wird Poincare den Wink ver-
stehen und endlich einlenken?
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Stadtarchiv Troisdorf (10. Oktober 2023). 10. Oktober 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 25. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/afyr