27. September 1923

Quelle: Stadtarchiv Troisdorf, Pressesammlung: Siegburger Kreisblatt vom 27. September 1923

Im Reichstag wird über den Ruhrwiderstand gesprochen.

         Die Entscheidung im Ruhrkriege.
                  Der deutsche Thiers.

   – er. Berlin, 25. September 1923.
   Die am Mittwoch beginnenden Reichstags-
verhandlungen sind nicht, wie ursprünglich ge-
plant, dem Währungsproblem gewidmet, sondern
der noch brennenden Schicksalsfrage des Ruhr-
widerstandes. In rückhaltlos offenen Erklärun-
gen will die Regierung Stresemann dem deutschen
Volke und der ganzen Welt kundgeben, was an
den beiden vorangehenden Tagen mit den nach
Berlin berufenen Vertretern der besetzten Gebiete
und mit den Mitgliedern des Reichsrates, d. i.
mit den Ministerpräsidenten der Länder bespro-
chen worden ist.


In Voraussicht dieser entscheidenden deutschen
Entschlüsse hat man auf französischer Seite noch
einmal alle Register der feindlichen Propagan-
da gezogen. Es sollte wie ein Trommelfeuer
auf die Nerven des zermürbten Gegners wirken.
In Trier hielten die Sonderbündler eine Gene-
ralversammlung von ganzen 800 Köpfen ab, wo-
rauf es zu Schießereien mit der deutschgesinnten
Bürgerschaft kam. In Wiesbaden fand ebenfalls
eine Zusammenkunft von etwa 1000 rheinischen
Querköpfen im Kurhaus statt, wobei die sattsam
bekannten Mathes und Dr. Dorten ihren An-
hängern erzählten, daß Frankreich den Abfall
vom Reiche „voraussichtlich“ u. „vielleicht“ mit der
Befreiung von den Reparationskosten belohnen
werde. Poincare hat wieder Sonntagsreden
gehalten, die in geradezu konzentrischer Weise
dem Zwecke dienen, die Stresemannsche Diplo-
matie schachmatt zu setzen.
Man vergleicht zurzeit in Kreisen, die die
geschichtlichen Erinnerungen lieben, den Reichs-
kanzler Stresemann mit Adolf Thiers der 1871
von der französischen Nationalversammlung in
Bordeaux zum Chef der Exekutive ernannt wurde
und, unterstützt von Jules Favre, Picard und
einer Kommission der Nationalversammlung den
Vorfrieden von Versailles (28. Februar) ab-
schloß. Dieser Vergleich hinkt aber leider auf
beiden Beinen. Thiers hatte bei seinem Ver-
handeln mit Bismarck einen viel stärkeren in-
nerpolitischen Rückhalt und ein viel leichteres
Spiel, als dem vielleicht ebenso gewandten
Staatsmann Stresemann im Augenblick zur Ver-
fügung steht. Denn erstens verfolgte Bismarck
keine verschleierten Vernichtungs- und Zerstücke-
lungsspiele, und zweitens hatte Thiers während
der ganzen Verhandlungen immer noch eine wich-
tige Karte zum Ausspielen in der Hand: Er
war bereit bei unerträglichen Bedingungen die
Verhandlung abzubrechen, Paris preiszugeben,
und von ihm entlastet, den Krieg im Lande
weiterzuführen, bis die Schwierigkeit der Okku-
pation und der unausbleibliche Umschwung der
internationalen Lage den Sieger doch noch über-
wunden hätten. Den Druck dieser Möglichkeit
fühlte Bismarck wohl und ließ sich deshalb von
Thiers zum raschen Abschluß unter erträglichen
Bedingungen bringen.
In welcher Lage befindet sich heute der deut-
sche Thiers? Nur Unverstand und Anmaßung
können von Trümpfen sprechen, die Reichskanz-
ler Stresemann gegenüber Poincare noch in der
Hand halte. Stresemann ist zwar der Kanzler
der großen Koalition. Aber diese innerpoli-
tische Stellung ist erschüttert auf der einen Seite
durch die Widerstände die aus Bayern kommen,
auf der anderen Seite durch den leidigen Konflikt,
des sächsischen Ministerpräsidenten Zeigner mit
dem Reichswehrminister Geßler, einen Konflikt,
der in den letzten Tagen bedenkliche Schwan-
kungen in der Haltung der Sozialdemokratie
hervorgerufen hat. Thiers konnte noch drohen!
Hat Stresemann noch einen Pfeil im Köcher?
Er hat zu Beginn seiner Kanzlerschaft darauf
hingewiesen, daß er wahrscheinlich der letzte bür-
gerliche Kanzler sein werde, wenn es ihm nicht
gelinge, den Ruhr- und Reparationsfrieden mit
Frankreich zu schließen. Friede oder das Chaos!
Poincare, der die bedingungslose Kapitulation
verlangt, glaubte den Einwänden von deutscher
Seite in seinen letzten Sonntagsreden bereits be-
gegnen zu können, indem er versicherte, die Aus-
sicht auf Anarchie im Herzen Europas könne
Frankreich nicht schrecken. Frankreich sei immun
gegen Ansteckung. Aber merkwürdigerweise
schlug er sofort in den „aufrichtigen Wunsch“ um,
daß Deutschland seine düsteren Vorhersagen wi-
derrufen könne. Ja, Poincare knüpfte an seinen
Wunsch, seltsam genug das Kompliment, daß
Deutschland bei seiner Disziplin und Begabung
sich bald wieder aufrichten werde. Ist Poincare
also doch zu einem vernünftigen Vorfrieden und
zu Verhandlungen bereit, wenn der deutsche
Thiers die letzte politische Kraft des deutschen
Volkes zusammenrafft? Die Haltung des
Reichstages wird auf die Frage die entscheidende
Antwort geben.

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Stadtarchiv Troisdorf (27. September 2023). 27. September 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 12. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/afvz


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