24. März 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 24. März 1923

Die rasant steigende Arbeitslosigkeit bekämpft die Stadt Solingen mit sogenannten Notstandsarbeiten. Die Kosten dieser „produktiver Arbeit” sind wegen der Zuschüsse aus der staatlichen Rhein-Ruhrhilfe für die Gemeinden im Solinger Industriebezirk verhältnismäßig gering. 

       Die Beschäftigung der Erwerbslosen, deren Zahl von Tag
zu Tag steigt, ist eine Aufgabe, der sich die in Frage kommenden
Stellen der Stadtverwaltung mit besonderem Eifer unterziehen.
Schon in der vergangenen Woche konnten die Ausschachtungs-
arbeiten für die neuen Häuser des Spar- und Bauvereins begon-
nen werden. Sie schreiten, wie wir uns überzeugen konnten,
rüstig vorwärts. Immerhin werden sie auch einige Zeit in An-
spruch nehmen. Da die Zahl der Erwerbslosen jedoch inzwischen
so groß geworden ist, daß sie auch nicht annähernd mit den
Ausschachtungsarbeiten beschäftigt werden können, hat die Ver-
waltung sich entschlossen, weitere Beschäftigungsmöglichkeiten durch
umfangreiche Bereitstellung von Notstandsarbeiten zu schaffen,
die zum kleineren Teile in städtischer Regie, zum größeren durch
Vermittlung von Unternehmern zur Ausführung gebracht werden.
In städtischer Regie werden z. B. ausgeführt eine Reihe von
Bachregulierungen im Heidbergtal, die Herstellung von Berie-
selungsgräben bei den Kläranlagen ebendort, Kanalbauten in den
Bezirken, die bisher noch nicht mit einem Kanal versehen waren
(Klingenstraße u. a.), durch Vermittlung von Unternehmern sol-
len u. a. ausgeführt werden die Einplanierung des Schießstan-
des auf dem St. Sebastian-Schützenfeld, Erdarbeiten für die An-
lage einer neuen Verbindungsstraße zwischen Wupperstraße und
Promenadenweg in der Nähe des Botanischen Gartens u[nd] a[ndere] m[ehr].
Die letztgenannten Arbeiten sind in der gestrigen Sitzung der
Baukommission vergeben worden und sollen in den ersten Tagen
der nächsten Woche beginnen. Im ganzen können zurzeit etwa
800 bis 1000 Mann beschäftigt werden. Da die Zahl der Er-
werbslosen heute bereits größer ist und fortgesetzt wächst, wird es
nötig sein, noch weitere Beschäftigungsmöglichkeiten, und zwar
auch für weibliche, zu suchen. Die Kosten, die der Stadt dadurch
erwachsen, sind wegen der Zuschüsse aus der Rhein- und Ruhr-
hilfe verhältnismäßig gering, und so handelt es sich bei vielen
Arbeiten für die Stadt um, wenn auch nicht dringend nötige, so
doch verhältnismäßig billige produktive Arbeiten. Die Annahme
der von der Stadt zugewiesenen Arbeiten seitens der Erwerbs-
losen ist bekanntlich nach den getroffenen Bestimmungen Vor-
bedingung für die Auszahlung der Löhne aus den Mitteln der
Rhein- und Ruhrhilfe. Diese Bereitwilligkeit dazu ist allerdings
verschieden. Keine oder kaum Schwierigkeiten machen die älteren,
verheirateten Arbeiter, die die Arbeit einem Nichtstun vorziehen.
Nicht so groß ist die Bereitwilligkeit bei einem Teil jugendlicher
Arbeiter. Ueber die letzteren schreibt das „Volksblatt“ folgendes:
„Leider gibt es auch Leute – und es sind immer dieselben
– , die glauben, sie dürften nicht zwangsmäßig zu dieser Arbeit
herangezogen werden. Gesagt muß aber auch werden, daß es
meist junge, unreife Burschen sind, die sich diesen Standpunkt
zu eigen machen. Dem Arbeitsamt wird es nicht schwer sein, die-
sen „Staatsbürgern“ ihre irrtümliche Auffassung auszutreiben.
Bei dieser Gelegenheit wollen wir auch einmal die Eckensteherei
brandmarken, die ebenfalls von den jugendlichen Erwerbslosen
inszeniert wird. Am Montagnachmittag konnten wir beobachten,
daß einige unreife Burschen im Knäuel zusammenstanden und so
ein direktes Verkehrshindernis auf der Hauptstraße bildeten. Der
Polizeibeamte, der in der denkbar anständigsten Form um „Wei-
tergehen“ ersuchte, wurde lächerlich gemacht mit Ausdrücken wie
„Sommerrekrut“, „Wie ault ist de?“ und noch anderen „höf-
lichen[“] Bemerkungen. Im Interesse der Arbeitslosen liegt es,
wenn diesen Burschen klar gemacht wird, daß sie kein Recht
haben, die gesamten Erwerbslosen bei der Bevölkerung in Miß-
kredit zu bringen. Die Bürgerschaft sollte aber auch in solchen
Fällen die schwierige Arbeit der Polizeibeamten unterstützen.“
Aehnliche Beobachtungen wie das Volksblatt hat auch ein Teil
unserer Leserschaft gemacht. Es ist zu hoffen, daß diese Mißstände
sich nach einiger Zeit von selbst beheben werden, sobald das Unge-
wohnte der neuen Arbeit etwas überwunden ist. Daß das Reich
die Unterstützungsgelder nicht gänzlich unproduktiv anlegen kann
und im Interesse der Allgemeinheit auch nicht darf, ist selbst-
verständlich für jeden, der wirtschaftlich denken gelernt hat und
weiß, daß mit einer Lohnzahlung die Notwendigkeit produktiver
Arbeit unabweislich verbunden sein muß.

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Stadtarchiv Solingen: RK (24. März 2023). 24. März 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 9. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/ae3l