27. Oktober 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 27. Oktober 1923

Ein Massenraub auf einem Kartoffelacker des Gutes Gönrath und das Verhalten der Polizei

                                                       Wald.
                Sie treiben die Arbeiter zur Verzweiflung!
   „Tante, gib mir ein Stück Brot, streue etwas Salz drauf, wenn
du keinen Zucker hast,“ so bettelte ein armes Mädchen vorgestern
eine Genossin an. Das Abendbrot einer anderen Familie bestand
aus rohen Mohrrüben. Ein Arbeiter ließ sich im Gewerkschaftshaus
nochmal den Kostkessel füllen, nachdem er volle zwei Tage ganz stille,
ohne zu klagen, gehungert hatte. Wer kennt all’ das Elend! Wenn
sich dieses entsetzliche Bild schon im Bannkreise einiger Häuser offen‐
bart, wie groß mag erst das Elend in Wirklichkeit sein, denn die
Armut schämt sich und verkriecht sich in die dunkeln Winkel der
Hütten. Wer vermag die Tränen zu zählen! Wer das inständige
Betteln der Kinder um Brot zu ermessen?!
   So kam es dann am Mittwochabend zu einem Massenraub auf
einem Kartoffelacker des Gutes Gönrath. Mit Mann, Weib und
Kind in großer Anzahl waren die ausgemergelten, klapperdürren
Arbeitslosen hingegangen, um sich die unerschwinglichen Erdknollen
da zu holen, wo sie sind. Wir verurteilen dieses aufs schärfste,
doppelt scharf, wenn solches Tun auf einem der Allgemeinheit ge‐
hörenden Acker geschieht. Aber da helfen die vernünftigsten Pre‐
digten nichts. Das sind Aktionen, welche der
Hunger diktiert!
   Es ist erreicht! Dahin also ist das Volk gekommen, wohin es
die kapitalistische Meute mit ihren Lakaien und Helfershelfern, der
Preßmeute, den Wucherern, Schiebern, Soldaten, Spitzeln und –
Sozialdemokraten, haben wollte. Und nicht zu vergessen die Polizei,
denn sie war wieder sofort zur Stelle, um Verhaftungen und Namens‐
feststellungen vorzunehmen. Schämt euch! Seid ihr nicht selber
arme Hungerleider wie wir alle? Standet ihr nicht auch noch vor
nicht langer Zeit in den Reihen des Proletariats? Zu solchen Hand‐
lungen gegen eure Brüder laßt ihr euch gebrauchen? Haltet ihnen
vielleicht den Revolver vor die Brust. Es sind doch Menschen, die
genau dasselbe Recht auf Existenz haben als ihr und als die voll‐
gefressene Ausbeuterclique.
   An die Arbeiter richten wir auch heute noch einmal die Bitte:
Hütet euch vor jedem Konflikt mit der Polizei und, soweit es geht,
vor dem Konflikt mit den – – – – Gesetzen . Es kommt
der Tag, an dem wir uns rächen. Aber bis dahin sammelt eure
Kräfte, organisiert die Abwehr gegen den Faszismus! Organisiert
die Revolution, damit wir nicht untergehen in dieser kapitalistischen
Barbarei.


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Stadtarchiv Solingen (27. Oktober 2023). 27. Oktober 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 6. November 2024 von https://doi.org/10.58079/aft9


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