20. Oktober 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 20. Oktober 1923

Auf der Erwerbslosenversammlung im Kaisersaal zu Solingen äußern Vertreter des Mittelstandes ihre Sympathie für den Kampf der Arbeiter und die KPD. Die Versammlung distanziert sich von Hungerkrawallen und Plünderungen.

                  Jedes Proletarierherz schlägt für Sachsen!
Die Solinger Arbeiterschaft gelobt tätigste Mithilfe für Sachsen und Thüringen,
     Arbeiter und Mittelständler Solingens in einiger Kampffront.
   Schwer und drückend ist die Not des arbeitenden Volkes. Fast
bis zum Wahnsinn gesteigerte Verzweiflung hat nicht allein die ge‐
samte Arbeiter- und Angestelltenschaft ergriffen, insbesondere die seit
langen Monaten aus dem Produktionsprozeß ausgestoßenen Massen.
Nein, auch weite Kreise des Mittelstandes haben nichts mehr zu
brechen und zu beißen, haben z. T. schon ihre Existenz verloren.
Sie alle nagen am Hungertuche und suchen sich des nahenden Hunger‐
todes zu erwehren. Mit allen Mitteln, nachdem jedes auf
friedlichem und parlamentarischem Wege versuchte fehlge-
schlagen. Jetzt, in letzter Stunde, in der höchsten Gefahr erkennt
selbst der indifferenteste Träumer, daß es wirklich um Sein oder
Nichtsein, um Kopf und Kragen geht. Der Hunger grollt, die un-
schuldigen, hohlwangigen Kinder der Massen liegen fiebernd auf dem
zerschlissenen Strohsack in feuchter, ungeheizter Höhle. Die Mütter
schleichen verzweiflungsvoll von einem Geschäft zum anderen, und
überall müssen sie umkehren, weil ihre paar lumpigen Papierlappen
seit dem Fortgange von Hause wieder wertloser wurden. Die Waren-
preise steigen ins Unermeßliche, täglich, stündlich. Es gibt keine
Rettung mehr vor diesem Menschenwürger Dollar. Nur eins gibt es
noch: den zähen, unerschütterlichen Glauben an die Revolution, an
den Sieg der aufgepeitschten Massen über die kapitalistischen Ver‐
brecher und ihre schurkischen Handlanger!
     „Und wenn die Welt voll Teufel wär’,
            es muß uns doch gelingen!“
   Jawohl, so rufen wir es denn hinaus in alle Welt: Jetzt
oder nie! Ströme zu Hauf, du wackeres Proletenvolk, du
deutscher Michel, erwache! Zerbrich die Ketten der Sklaverei,
strafe die Tyrannen, die dich peinigten ohne Zahl! Weiche und
wanke nicht, denn der Sieg ist uns gewiß!
   Das ist der Geist, der die gestern im Kaisersaal zu Solingen
stattgefundene Erwerbslosen-Versammlung beseelte. Der große
Saal war total überfüllt, Kopf an Kopf saß und stand die Masse und
draußen auf der Straße sammelten sich dauernd neue Trupps an, die
keinen Einlaß finden konnten. Schon morgens hatten die Erwerbs‐
losen in gewaltiger Zahl demonstriert gegen die ihnen zugedachte
erbärmliche Unterstützung von Stresemanns Gnaden. Ganze zwei
Milliarden wollte man den Leuten in die Hand drücken, die für vier
Tage berechnet waren. Solchen Hohn hatten sie mit vollem Recht
abgelehnt. Man spottete all der „weisen“ Vorbereitungen, die
seitens der Polizeibehörde getroffen waren. Wirklich naive Geister
das, die sich einbilden, mit Revolver und Säbel den Hunger bezwin‐
gen zu können. Ihnen allen wird schon noch zum Bewußtsein ge‐
bracht werden, wie sehr sie irren, wie töricht sie verfuhren mit
ihren um ihr nacktes Leben kämpfenden Volksgenossen. O, ihr arm‐
seligen Kleingeister!
   Der Vorsitzende des Erwerbslosenrates, Kollege Schwarz, er‐
stattete einen kurzen Bericht über die Verhandlungen mit dem Ober‐
bürgermeister. Doch das Resultat der 3½ stündigen Sitzung war gleich
Null. Mit dem leeren Versprechen, in etwa 14 Tagen die Volks‐
küche zu eröffnen, versuchte er, uns abzuspeisen. In der Zeit sind
wir schließlich samt unseren Frauen und Kindern verhungert. Die
Ausführungen des Redners wurden mit eisigem Schweigen entgegen‐
genommen. Ebenso auch das negative Resultat bei der britischen
Behörde, die lediglich mitteilen konnte, daß gestern in Köln eine
Sitzung mit dem Syndikus der Handelskammer stattfand über die
evtl. Wiedereröffnung der Betriebe.
   Und nun kam das Bedeutsamste für die gesamte Arbeiterschaft.
Als erster Diskussionsredner trat der Geschäftsmann Bernsmann
von hier auf und gab der Versammlung bekannt, daß eine große
Zahl Mittelständler anwesend sei, um sich mit der kämpfenden Ar‐
beiterschaft solidarisch zu erklären. (Bravo!) Er schilderte unter
lebhaftem Bedauern ihrer seitherigen falschen Einstellung im wirt‐
schaftlichen und politischen Tageskampf alle die Nöte, die nun auch die
Mittelstandskreise ergriffen. Von brausendem Beifall begleitet wurden
seine folgenden Worte: „Wir wollen fernerhin ernstlich und ehrlich
mit der Arbeiterschaft zusammenhalten gegen alles, was da kommen
möge, gegen alle die unvernünftigen Maßnahmen der kapitalistischen
Regierung, wie wir sie zu spüren bekommen. Wenn sie uns nicht
helfen kann, dann helfen wir uns eben selbst über die Regierung
hinweg.
   Außerdem sprachen noch zwei weitere Mittelständler, die eben‐
falls bekundeten, daß die schwüle Atmosphäre in Deutschland gereinigt
werden müsse. Und dies könne nur erfolgen durch einiges Zusammen‐
halten des Mittelstandes mit der Arbeiterschaft. Das größte Ver‐
trauen müsse man der Kommunistischen Partei entgegen‐
bringen nebst deren Presse, die stets als einzige sich der Werktätigen
angenommen habe. Alle die nachfolgenden Erwerbslosen-Redner —
mehr als ein Dutzend — gaben ihrer Genugtuung Ausdruck über die
endlich sich durchringende bestere [sic!] Einsicht bei den Mittelständlern.
Notwendig sei es jetzt aber für sie, sich auch bei der KPD. zu or‐
ganisieren sowie unter Hinauswurf der verlogenen bürgerlichen
Presse die „Bergische Arbeiterstimme“ zu abonnieren. Vor
allem wurde verlangt, von allen Seiten den größten Druck auf die
Fabrikanten auszuüben, damit alsbald die Betriebe geöffnet werden.
Jeder Redner warnte ernstlich vor dem unsinnigen Kampf
mit den Schaufensterscheiben, wie er von provokatorischen
Elementen in der vorigen Woche geführt worden sei. Kein organi‐
sierter und disziplinierter Arbeiter werde derartige Verbrechen dulden
und die betr. Burschen an Ort und Stelle sofort abstrafen. Aber auch
die bürgerliche Presse — vor allem die „Bergische Post“ — solle sich
hüten, der organisierten Arbeiterschaft wie deren Presse derartiges in
die Schuhe zu schieben. Gerade die religiös vernatterten Menschen,
denen ihre Leibpresse ferner noch das gesunde Denken raubt, sind es,
die zu solchen „Taten“ fähig sind.
   Einer unserer Genossen, namens Esser, verstand es geradezu
meisterhaft, die heftig erregte Versammlung in seinen Bann zu
ziehen. Seine klaren marxistischen Ausführungen wirkten frappierend
und wurden aufmerksam verfolgt. Er warf die Frage auf:
         Wer ist schuld, daß wir heute um ein
             Stückchen Brot betteln müssen?
Teile der Arbeiterschaft und des Mittelstandes selbst wegen ihrer un‐
genügenden politischen Reife. Die falsche Erziehung der Jugend
in religiösem und patriotischem Wahn. Im Kriege hat es sich in
erschreckendem Maße gezeigt, daß alle, die uns „regierten“ und auch
heute leider noch auf die Menschheit losgelassen werden als große
und kleine „Regenten“, z. T. nichts anderes als Spitzbuben und Ha‐
lunken sind. Und diese Gesellschaft heißt es jetzt hinwegzufegen im
frischen Zuge der bevorstehenden großen Abrechnung. Schon tönen
die Alarmrufe aus Sachsen und Thüringen zu uns herüber, der
Bürgerkrieg droht. Jetzt heißt es, mit einem Schlage überall
zugefaßt zur Unterstützung unserer dortigen Brüder, die auf dem
Sprunge stehen. Helfen wir uns untereinander aus der schwersten
augenblicklichen Not, bis das Ziel erreicht ist. Bezwingen wir noch
kurze Zeit den Hunger. Harren wir aus, unsere Befreiungsstunde
naht! (Stürmisches Bravo!)
   Es wurden dann verschiedene Anträge gestellt, um die momentane
Notlage der Erwerbslosen zu meistern. Schließlich wurde einstimmig
beschlossen, nochmals eine neugewählte Kommission gemeinsam mit
den Gewerkschaftsvertretern bei der Stadtverwaltung vorstellig wer‐
den zu lassen. Darauf gab man die neuen Sätze bekannt, die unsere
Leser an anderer Stelle vorfinden.
   Ohne jeden Zwischenfall verlief so die von bestem Kampfgeist ge‐
tragene Versammlung. Die Polizei hatte vergeblich gerüstet.


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Stadtarchiv Solingen (20. Oktober 2023). 20. Oktober 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 25. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/afst


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