27. März 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 27. März 1923

„Alle, die nicht mehr verdienen können, die aber ehedem redlich geschafft und für die Notzeit sich den Notgroschen am Munde absparten, wissen nicht, wie sie ihr Dasein bestreiten und ihr Leben fristen sollen.“

                               Aus Stadt und Umgegend.
                                                           Solingen, 27. März.
Eine Solinger Notgemeinschaft zur Unterstützung der Kleinrentner.
             Man schreibt uns:
       „Wohl ist der schwere Winter, dem wir alle mit Grauen ent-
gegensahen, fast vorüber, aber noch steht Frau Sorge vor vielen,
vielen Türen auch in unserer Stadt. Gerade die nun kommenden
Monate vor der neuen Ernte sind am schwersten zu ertragen.
Die Preise, besonders die Brot-, Milch- und Gemüsepreise, stei-
gen unausgesetzt. Die Zahl der Kleinrentner umfaßt immer
weitere Kreise. Durch die Geldentwertung sind die Rentenbezüge
sowohl aus der Sozialversicherung, besonders aber die aus eige-
nem Kapital, auf einen Bruchteil ihres Friedenswertes herabge-
drückt. Alle, die nicht mehr verdienen können, die aber ehedem
redlich geschafft und für die Notzeit sich den Notgroschen am
Munde absparten, wissen nicht, wie sie ihr Dasein bestreiten und
ihr Leben fristen sollen. Der ganze Mittelstand leidet bittere
Not. Das Wort von Homer: „Schnell altern die Menschen im
Elend“ bewahrheitet sich in erschütternder Weise in unserer Zeit.
       Wohl ist mit dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 1. Februar
1923 ein großer Schritt vorwärts getan, und die großzügige
Hilfsaktion des Reiches muß sich im Laufe der Zeit bemerkbar
machen. Dankbar soll anerkannt werden, daß in unserer Stadt
durch reiche Geld- und Lebensmittelspenden von Amerika viel
Not gelindert wurde und daß durch die Arbeitgeberspende und
durch städtische Sammlungen vor Weihnachten, in Waren um-
gesetzt, viele Wünsche befriedigt werden konnten. Es muß aber
unser Bestreben sein, unserm Mittelstand, den man mit Recht
„Staatsgläubiger“ nennt, Mittel und Wege zur Selbsthilfe zu
zeigen.
       Ueber diesbezügliche Möglichkeiten sprach in der Generalver-
sammlung des d[eutschen] ev[angelischen] Frauenbundes am 14. März Fr[äu]l[ein] Rhein-
brecht-Bonn in einem Vortrag über „Rentnerfürsorge.“ Nach
dem Vorbild von Bonn und anderen Städten soll auch hier in
Solingen zunächst eine Arbeitsvermittlungsstelle zur Verwer-
tung der noch vorhandenen Arbeitskräfte geschaffen werden, um
durch Anfertigung von Bekleidungsgegenständen und Handar-
beiten aller Art Frauen eine regelmäßige Einnahmequelle zu
eröffnen. Weiter muß verhindert werden, daß Personen des
Mittelstandes, die Wertgegenstände verkaufen möchten, diese, um
der augenblicklichen Not abzuhelfen, weit unter Preis verschleu-
dern oder gewissenlosen Händlern und Ankäufern in die Hände
fallen. Es ist uns eine große Reihe solcher Fälle bekannt. Am
und 13. April soll hier ein solcher Verkauf von Büchern, Mö-
beln, Wäsche und Wertgegenständen stattfinden. Frauen der ver-
schiedenen Vereine beider Konfessionen werden den Verkauf lei-
ten, nachdem sie vorher die Gegenstände von Fachleuten haben
abschätzen lassen, und so den Eigentümern zu ihrem Rechte ver-
helfen. Es wird dafür Sorge getragen, daß der Erlös für die
verkauften Gegenstände wenige Tage nach dem Verkauf vom
Verkäufer in Empfang genommen werden kann. Es ist selbst-
verständlich, daß die größte Diskretion beobachtet wird. Wir
bitten unsere Mitbürger, diese Anregung weiterzugeben und sich
an dieser Arbeit, die sich schon in vielen Städten bewährt hat,
zu beteiligen. Wir hoffen dann, sie von Zeit zu Zeit zu wieder-
holen. Nähere Angaben folgen in der Tagespresse.
       Es wäre zu begrüßen, wenn diese Arbeit den Anlaß gäbe zur
Gründung einer Notgemeinschaft, wie sie sich nach dem Aufruf
des Reichspräsidenten im Oktober 1922 vielerorts gebildet hat
und die alle Schichten der Bevölkerung umfaßt und getragen
wird von dem Gedanken, den wirtschaftlich Schwachen in dieser
Zeit eine wirksame Stütze zu gewähren.“
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Stadtarchiv Solingen: RK (27. März 2023). 27. März 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 17. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/ae3k