12. Oktober 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 12. Oktober 1923

Am Abend: Teuerungs- und Hungerunruhen auch in Ohligs

         In Ohligs ebenfalls Teuerungsunruhen.
   Solche fanden auch gestern abend in den Mauern unserer
Stadt statt. Breite Volksmassen handelten — bis zur Ver‐
zweiflung getrieben — nach dem Ausspruch des damaligen
Reichskanzlers Bethmann Hollweg, als die Truppen in Belgien
einmarschierten: „Not kennt kein Gebot.“ Schon gestern mor‐
gen früh zogen die Erwerbslosen demonstrativ zum Rathaus,
um eine Erhöhung der Unterstützungssätze zu fordern. Nach
eingehenden Verhandlungen des Erwerbslosenrats, des Beig[eordneten]
Gen[osse] Menge und Bürgermeister Sauerbrey wurde eine Depu‐
tation, bestehend aus den beiden genannten und einem Mitglied
des Erwerbslosenrats nach Barmen gesandt, um mit dem Re‐
gierungspräsidenten Grützner über eine Erhöhung der Unter‐
stützungssätze zu verhandeln.
   Gestern nachmittag gegen abend sammelte sich dann eine
große Menschenmasse vor der Stempelstelle an, um das Er‐
gebnis der Verhandlungen abzuwarten. Bereits in den ersten
Nachmittagsstunden hatten sich Hungernde nach dem Rittergut
Hackhausen begeben, wie uns berichtet wurde, um sich dort
Kartoffeln auszumachen. Die ungeheure Preissteigerung
durch die katastrophale Entwertung unserer Mark
brachte gegen abend die Erbitterung zur Siedehitze.
Spontan aus der Masse heraus zogen sie zu dem Kartoffel‐
händler Andree und holten hier sämtliche Kartoffeln heraus.
Später zogen sie nach dem Butter- und Käsegeschäft Müller
an der Düsseldorferstraße. Als man die Türe nicht öffnen
wollte, klirrten die Scheiben. Hier wurde gleichfalls alles her‐
ausgeholt. Von hier zogen die Massen, deren Erbitterung
keine Grenzen mehr kannte, nach dem Geschäft Hitzegard [sic!]. Hier
wurde den Leuten durch einen Vertreter des Inhabers erklärt,
daß sie die Not und das Elend anerkannten und bereitwillig
sämtliche Ware durch Vertreter zur Verteilung bringen wollte[.]
Plötzlich erschien hier die Polizei mit dem Bürgermeister.
   Als hier etwas Ruhe eingetreten war, sprach der Bürger‐
meister einige beruhigende Worte, die aber nicht viel Anklang
fanden, sondern durch lebhafte Ausrufe, wie: „Wir haben
Hunger“, „Wir wollen satt zu essen haben“ unterbrochen
wurden. Erst nachdem unser Genosse Scharrenberg einige
Worte zur Besonnenheit gesprochen hatte, verzogen sich die
verünftig [sic!] Denkenden. Später, an dem Geschäft von Müller
Düsseldorferstraße, griff die Polizei mit der Waffe ein. Wie
uns berichtet wurde, sollen schwere Verletzungen durch
die blanken Waffen herbeigeführt worden sein.
   Wenn man auch das Vorgehen der Massen in dieser Art
und Weise nicht billigen kann, so kann man es doch verstehen,
daß sich derartiges ereignet in Notwehr!
   Die Preise waren durch das gewaltige Steigen des Dollars
nicht zu erschwingen und wenn eben das Maß voll ist, läuft
es über. Schuld an diesen ganzen Vorkommnissen tragen
diejenigen Stellen, die noch gestern erklärten: „Trotz
Gefahr für Leib und Leben müssen wir jede weitere
Erhöhung der Unterstützung ablehnen!“
   Deshalb auch klagen wir die Regierungsstellen an,
die Massen zum Hungern zwingen zu wollen.


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Stadtarchiv Solingen (12. Oktober 2023). 12. Oktober 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 12. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/afsm


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