12. Oktober 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 12. Oktober 1923

Solingen: Massiver Polizeieinsatz bei Hungerunruhen in der Innenstadt

                             Hungerkrawalle in Solingen.
Die ungeheuren Preissteigerungen – Verzweifelte Hausfrauen – Polizeisäbel gegen den Hunger – Provokateure und Plünderungen.

                                               Solingen, den 12. Oktober 1923.
   Am gestrigen Donnerstag war die Stadt Solingen der Schau‐
platz von Ereignissen, die in ihrer Grauenhaftigkeit und ihren zer‐
störenden Folgen eine flammende Anklage gegen die Verantwortlichen
an den heutigen Elendszuständen sind. Sie werden ein schwarzes
Blatt in der Bergischen Geschichte sein.
   Wie kam es nun, daß Solingen gestern den ganzen Tag
über in höchster Erregung war? Infolge der über Nacht eingeführten
gewaltigen Preiserhöhung auf sämtliche Lebens‐
mittel bemächtigte sich gleich morgens der Käufer die hellste
Empörung. Der Einzelhandel hatte den Multiplikator erhöht
von 480 auf 1800 Millionen! Als die Bevölkerung – zum
großen Teil seit Monaten arbeitslos oder aber mit wahren Schand‐
löhnen abgespeist — diese Wahnsinnspreise erfuhr, wuchs die Erbit‐
terung zusehends. Kein Wunder, kommt doch hinzu der brutale Ab‐
bau der Rhein-Ruhr-Hilfe bei der kaum zu erwartenden Oeffnung
der Betriebe. Nach und nach sammelten sich auf dem Wochenmarkt
wie vor den Geschäften heftig erregte Menschenmassen an, die über
die geradezu tollhäuslerischen Preise diskutierten. Gar bald erschien
die Polizei auf dem Plan, wodurch die Stimmung der Bevölke‐
rung nur noch gereizter wurde. Es dauerte denn auch nicht lange,
da gingen in den Feinkostgeschäften der beiden Gebrüder Idelberger
die Schaufenster in Trümmer, wobei auch, wie es heißt, geplündert
wurde. Wir brauchen wohl nicht zu betonen, daß wir derartige
Handlungen keineswegs und niemals gutheißen,
obwohl wir manches aus Not Entstehende anders beurteilen als
die bürgerliche Presse sowie die heutige Justiz. Hunger tut weh!
   Nun, als dies geschehen, gab’s für die Polizei kein Halten mehr.
Sie trat in Aktion, und zwar in einer solch unverantwortlich un‐
klugen Art, daß selbst angesehene Leute aus Bürger‐
kreisen mit Abscheu darüber urteilten. Wiederholt
wurden die sich am Neumarkt und den angrenzenden Straßen an‐
stauenden Menschenmassen mit Säbelhieben und Pistolen-
schüssen auseinandergetrieben. Hierdurch wuchs
die Wut der Menge und in der Notwehr griffen die Mißhandel‐
ten zu Steinen, womit sie sich die Polizisten in etwa vom Leibe hiel‐
ten. Sonderbarerweise sperrte man auch noch die Kölnerstraße ab
mittels zwei Schutzmannsketten. Es wurden eine ganze Anzahl Leute
leichter verletzt, eine Frau (Mutter von 4 Kindern), die Einkäufe be‐
sorgen wollte, erhielt eine schwere Schußverletzung ins Bein und
wurde von Sanitätern ins Krankenhaus geschafft. Die Arbeiter‐
Sanitäter verrichteten tatkräftig ihre Arbeit, aber auch selbst sie
sollen mit dem Säbel traktiert worden sein.
   Jedenfalls in Anerkennung der höchsten Gefahr entschlossen sich
mehrere Lebensmittelhändler, sofort eine Sitzung abzuhalten, um
gemeinsam mit Vertretern der Arbeiterschaft notlindernde Maß‐
nahmen zu treffen. Bald darauf fanden weitere Sitzungen statt, in
denen über die mannigfachsten Hilfsaktionen beraten wurde. So z. B.
beschloß eine Kommission unter Leitung des Beig[eordneten] Schaal, heute
früh bedeutend verbilligte Lebensmittel an alle
Notleidenden zur Verteilung zu bringen. Groß- und Kleinhandel
verzichten dabei z. T. gänzlich auf irgendwelchen Gewinn. Auch
wurde die schleunigste Inbetriebsetzung der städtischen Volksküche
verlangt. Unter dem Vorsitz des Beig[eordneten] Krenzer beschloß eine an‐
dere Kommission bei der heutigen Zahlung der Erwerbslosen‐
Unterstützung (neue Sätze) eine Vorschußzahlung von 170 Prozent
für jede Staffel. Ferner verlangten die Arbeitervertreter die sofortige
Einberufung einer gemeinsamen Sitzung mit den So‐
linger Fabrikanten zwecks schleunigster Oeffnung der Be‐
triebe. Diese Sitzung dürfte heute noch stattfinden. Ueber hinreichende
Notstandsarbeiten soll in den allernächsten Tagen Beschluß
gefaßt werden, nachdem die Verhandlungen mit den Fabrikanten
gepflogen sind.
   In all diesen Sitzungen — auch die Baukommission tagte
gestern — hagelte es nur so an Protesten der Arbeitervertreter über
das unsinnige forsche Vorgehen der Polizei. Unbedingt verlangte man
das Verbot des Schießens.
   Während des ganzen Nachmittags dann dauerten die Unruhen
an, wobei es noch eine ganze Anzahl Verletzte gab, die in die Kran‐
kenanstalten gebracht wurden. Als es dann auf der mittleren
Kaiserstraße wiederum zu Plünderungen kam, schritten der
Proletarische Ordnungsdienst und schließlich auch die
Besatzung ein. Arge Verwüstungen wurden angerichtet an den
Schaufenstern der Firmen Klasing u. Baumann, Artmeier, sowie
ferner bei dem Schuhwarenhändler Hugenbruch, Ufergartenstraße.

          Schärfster Protest gegen die Solinger
                   „Ordnungshelden.“
   Gestern nachmittag nahm in überfüllter Volksver‐
sammlung die Solinger Arbeiterschaft in der Stadthalle noch
Stellung zu den Vorgängen am Vormittag, die leider am Nach‐
mittag bis in die Abendstunden sich fortsetzten. Genosse Ober‐
dörster sprach in der Stadthalle zu den Erschienenen, darauf hin‐
weisend, daß diese Hungerkatastrophe absichtlich von der Großindu‐
strie herbeigeführt wurde, um durch dies Chaos die Regierungs-
gewalt an sich zu reißen und die Diktatur des Kapitals und des
Militärs aufzurichten. Was kann die Arbeiterschaft tun, um dieses
zu verhindern? Fester Zusammenschluß aller Ausgebeuteten, nicht
nutzlose Aktionen in einzelnen Orten, die wie bekannt immer und
immer wieder blutig niedergeschlagen werden. Wir haben alle Ur‐
sache, mit unsern Kräften sparsam umzugehen. Arbeiterblut
ist kostbar, das darf nicht unnütz vergossen werden. Genosse
Fritsch brachte eine Resolution zur Verlesung die folgenden Wort‐
laut hat:
      „Die heute am 11. Oktober spontan stattfindende überfüllte
   Volksversammlung in der Stadthalle Solingen spricht der Reichs‐
   regierung ihr schärfstes Mißtrauen aus, da dieselbe
   durch die Ruhrbesetzung und den passiven Widerstand arbeitslos
   gewordenen Arbeitern die Unterstützung entzieht und damit dem
   nackten Hungertode preisgibt. Ebenso wie die Erwerbslosen, leiden
   die noch beschäftigte Arbeiterschaft und der Mittelstand, die durch
   das Heraufschnellen der Preise auch nicht mehr annähernd in der
   Lage sind, die Existenz des nackten Lebens zu erhalten.
      Die Versammelten erkennen klar, daß diese Hungerkrawalle
   mit voller Absicht von dem Großkapital herbeigeführt werden, um
   in dieser Situation ihre Diktaturgelüste zur Durchführung zu
   bringen. Die Versammelten wissen, daß nur mit Anspannung
   aller Kräfte des Gesamtproletariats die Gefahr beseitigt werden
   kann. Eine Besserung der Lage der Arbeiterschaft bringt nur eine
   Regierung der Arbeiter und Bauern.
      Die Vorgänge am heutigen Vormittag, wo die Solinger
   Polizei sich mit geschwungenem Säbel auf
   wehrlose Frauen, Kinder und Arbeiter stürzte,
   verurteilt die Versammlung auf das schärf‐
   ste und erwartet von den Vertretern der Arbeiterschaft,
   daß sie alles daransetzen, daß diese provozierenden Be‐
   amten aus dem Ordnungsdienst entlassen werden.
      Sämtliche Stadtverordnete werden verpflichtet, sofort dafür
   einzutreten, daß die Volksküchen in Betrieb gesetzt werden für alle
   Bedürftigen. Die Versammelten geloben strengste Disziplin zu
   halten und sich zu rüsten zu dem Endkampf zur Verwirklichung des
   Sozialismus.
      Es lebe der gemeinsame Kampf aller Arbeiter, ohne Unter‐
   schied der Partei und Gewerkschaft gegen die Diktatur des Kapitals
   und des Militärs. Die hungernden Solinger Arbeiter rufen der
   gesamten Arbeiterschaft zu, sich zu rüsten zum letzten
   Kampf! Zum endgültigen Siege!“
      Diese Resolution wurde einstimmig angenommen. Nach kurzeer [sic!]
Diskussion und einem Hoch auf die Weltrevolution wurde die Ver‐
sammlung geschlossen.


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Stadtarchiv Solingen (12. Oktober 2023). 12. Oktober 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 14. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/afsk


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