Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 11. Oktober 1923

Auf einer große Protestversammlung der Erwerbslosen in der Solinger Stadthalle folgt eine Demonstration zum Gewerkschaftshaus

                   Gewaltige Erbitterung der Massen!
                Und wiederum eine überfüllte Protest‐
             versammlung der Solinger Erwerbslosen.
   Gestern, Mittwoch abend, waren Tausende von Erwerbslosen
und Kurzarbeitern aus dem oberen Kreise Solingen in die Stadt‐
halle in Solingen gekommen, um in gewaltiger Kundgebung
zu protestieren gegen das Hungerdiktat der Re-
gierung. Trotz des unaufhörlich strömenden Regens waren die
hungernden Frauen und Männer herbeigeeilt, um über die Kampf‐
maßnahmen zu beraten, die ihnen durch die niederträchtigen Re‐
gierungsmaßregeln mit brutaler Gewalt aufgedrungen wurden.
Der große Saal der Stadthalle nebst Galerie sowie die Vorräume
waren überfüllt. Vollkommen durchnäßt harrte die Menge aus bis
zum Schluß der denkwürdigen Versammlung, die ein gellender
Notschrei, ein donnernder Fluch war gegen das Kapital und
seine Lakaien, die saubere Clique Stresemann-Sollmann.
   Nachdem Gen[osse] Engels den Erschienenen den Zweck der Ver‐
sammlung erklärt und einige sie interessierende Mitteilungen ge‐
macht hatte, erhielt der Arbeitersekretär Gen[osse] Wieden das Wort
zu seinem Vortrage über: „Abbau der Rhein- und Ruhr‐
hilfe“. Weit zurückgreifend auf den Beginn der Ruhrbesetzung
sowie deren Ursachen, führte Redner der Versammlung vor Augen,
in welch toller, ja geradezu verrückter Art das Großkapital nebst
seiner unterwürfigen Regierung der Arbeiterschaft den Fuß in den
Nacken stößt. Der Zehnstundentag wurde bereits diktiert bei den
ohnehin hundserbärmlichen Löhnen, die nicht einmal hinreichen, um
davon auch nur einen Tag menschlich leben zu können. Nach der
Kapitulation vor dem französischen Imperialismus hat Stinnes die
Offensive ergriffen, um die deutsche Arbeiterschaft vor den bis über die
Achsen im Sumpf steckenden Reparationskarren zu spannen. Das
gilt es unbedingt zu verhindern; es gilt den Kampf auf der ganzen
Linie.
                       Die Situation ist bitter ernst!
So ermahnte der Referent die aufmerksam und gespannt Zuhörenden.
   Die Arbeiterschaft muß total verelenden und verhungern, wenn
sie sich nicht zum Kampf entschließt. Jeder muß einsehen lernen,
wohin die Reise geht. Endlich müßt ihr die Feinde der Arbeiter
erkennen: die bürgerliche Presse und die bürgerlichen Klimbim‐
Vereine. Auch unter euch werden noch viele sein, denen diese Mah‐
nung gilt. Nehmt euch das zu Herzen. Den Kampf für Wiederein‐
stellung in den Produktionsprozeß müßt ihr jetzt energisch aufnehmen.
Keine Minute länger arbeiten als 8 Stunden. Wer es doch
tut, wird es zu spüren bekommen. Die Organisationen werden die
Kontrolle aufs schärfste durchführen. Ihr steht bereits an der
Mauer. Wehrt euch in letzter Minute! Die Bauern und Ge‐
schäftsleute verlangen schon Bezahlung nach Dollar. Wo wollt ihr
da bleiben mit den erbärmlichen Papierlappen? Es gibt aber einen
Ausweg aus dieser Not. Nicht durch Eintritt in die kapitalistische
Regierung, sondern durch eine Regierung der Arbeiter und
Bauern. (Bravo!) Und noch ein Wichtiges: Laßt euch nicht
provozieren, wo es auch sei. Steht zusammen! Bleibt einig!
Hört auf den Erw[erbslosen]-Rat und die euch bekannten leitenden Kollegen
in den Organisationen. Haltet euch stets bereit zum erbitterten
Kampf auf der ganzen Linie! Es gibt jetzt nur noch ein Ent‐
weder — oder! (Lebh[aftes] Bravo!)
   Die Diskussion war sehr rege und ebenso fruchtbar wie auch
das Referat. Es wurde vor allem aufgefordert zur Beteiligung
und Mitarbeit in den Betriebszellen sowie ferner zum Eintritt
in die komm[unistische] Partei und zum Abonnement der „Bergischen
Arbeiterstimme“.
   Lebhafte Klagen wurden laut über bitterste Not in vielen
Familien, deshalb fand auch ein Antrag einstimmige Annahme,
wonach die amtlichen Stellen zur sofortigen Hilfe aufge‐
fordert wurden. Aus aller Munde ertönte das verzweifelte
Verlangen nach dem endlich unvermeidlichen Kampf zur Er‐
lösung aus dieser elenden Lage. Immer und immer wieder
riefen die Massen stürmisch:
                       Nieder mit dem Kapital!
   Nach Schluß der Versammlung zogen die Teilnehmer zu
Tausenden, die „Internationale“ singend, am Stadthause vorbei
über die Kaiser- und Kölnerstraße zum Gewerkschaftshause.