Quelle: Stadtarchiv Troisdorf, Pressesammlung: Siegburger Kreisblatt vom 4. September 1923.

In seiner Rede sprach Reichskanzler Gustav Stresemann ausführlich über ein mögliches Ende der Ruhrbesetzung sowie über die Stützung der Währung, die Pflichten des Beamtentums, die neue Steuerpolitik und die Erwerbslosenfürsorge.

Die Stuttgarter Reichskanzlerrede.

     Mtb. Stuttgart, 2. Sept. Bei seiner Anwe-
senheit in Stuttgart hielt Reichskanzler Dr. Strese-
mann eine Rede, in der er u.a. folgendes ausführte:
Die Zeiten, in denen wir leben, sind von ungeheurem
Ernst. Es würde mir völlig falsch erscheinen, wenn
wir uns den Nöten verschließen und sie nicht fest ins
Auge fassen würden. Wir sind in einer Not, die kaum
zu beheben ist. Stärkster außenpolitischer Druck
und schwerste innere Bedrängnis lastet auf uns. Rhein
und Ruhr sind abgetrennt, ohne deutsche Souveräni-
tät, ohne deutsche Verwaltung und ohne deutsche Ar-
beit. Unser Gruß gilt in erster Linie denen, die die
unaussprechliche Bedrückung erleben und trotzdem dem
Reich die Treue bewahren. Wir haben sie nicht ver-
gessen. Die Schaffung eines Ministeriums für die
besetzten Gebiete ist ein äußeres Zeichen unserer Ver-
bundenheit mit ihnen. Jede auswärtige Politik des
Reiches kann nur das Ziel haben, den schwer be-
drängten deutschen Volksstämmen die Freiheit wie-
der zu beschaffen. Es gilt einen Weg zu finden. Daß
wir bereit sind, auch die schwersten materiellen Opfer
auf uns zu nehmen, um zu diesem Ziel zu kommen,
ist bekannt. Die Alliierten verlangen von uns Ga-
rantien tatsächlicher deutscher Leistungen. Wir sind
bereit, Reichs- und (P)Privatbesitz als Pfänder zu
geben. Was will Frankreich? Seine Pfänderpolitik
bezieht sich auf Schaffung einer rheinländischen Bahn-
gesellschaft und auf die Uebereignung der deutschen
Bergwerke an der Ruhr. Wenn Frankreichs Ziele

nicht politische sind, sondern auf wirtschaftlichem und
finanziellem Gebiete liegen, so stimmt es nicht, daß
die Garantie des deutschen Eisenbahnbesitzes und der
gesamten deutschen Wirtschaft dem Herausreißen ein-
zelner Teile aus diesem Gesamtkomplex nicht minde-
stens gleichwertig seien. In der belgischen Antwort-
note an England sind dieselben Gedanken ausgespro-
chen, die ich in meiner Rede vor dem deutschen In-
dustrie- und Handelstag ausführte. Danach braucht
die Ruhrbesetzung nur bis zu dem Augenblick fort-
gesetzt werden, bis die produktiven Pfänder Deutsch-
lands mit Bezug auf die Leistung effektiv werden.
Auch die Haltung der englischen Oeffentlichkeit wie
die Aeußerungen der italinischen Presse lassen durch-
weg die Möglichkeit erkennen, ein Ergebnis her-
beizuführen, welches das Reparationsproblem einer
Lösung näherbringt. Jede Fortführung der Diskus-
sion und neue brauchbare Ideen werden wir begrüßen.
Deutschland braucht ein Moratorium, denn es kann
seine Leistungen vorläufig nur als Zinsleistungen
aufnehmen. Um größere Summen zur Verfügung
zu stellen, müßte eine internationale Anleihe in die
Wege geleitet werden, für die deutschen produktiven
Pfänder hafteten. Erst wenn die Welt darüber
klar sein wird, daß die Beendigung des Ruhrkon-
flikts gleichzeitig der Anfang zu einer neuen Frie-
densära ist, werden die Alliierten im Verein mit
Deutschland die Anleihefrage lösen können. Ein wie-
derhergestelltes Deutschland wird bei Adoptierung
dieser Grundsätze in der Lage sein, die Garantie der
Zinsverpflichtung zu übernehmen, auf die sich im
allgemeinen eine Weltanleihe aufbauen kann.
   Französische Stimmen sprachen davon, daß die
Lösung des Konfliktes zwischen Deutschland und
Frankreich nicht nur auf materieller sondern auch auf
politischer Basis erfolgen müsse. Wenn es sich da-
rum handelt, daß die am Rhein interessierten Staa-
ten sich vereinigen sollen, um die Unversehrtheit des
gegenwärtigen Gebietszustandes zu garantieren, so
wird Deutschland jederzeit bereits sein, einem sol-
chen Bündnis beizutreten. Ein wirtschaftlich mit
Frankreich verbundenes Deutschland wird für die
Durchführung der Friedensidee die denkbar größte
Sicherheit bieten. Frankreich versichert, daß es von
Deutschland keine Annexionen will, daß es ihm
fernliege, Deutschland zu zerstören, daß es nichts an-
deres wlle, als die Garantie für die Leistungen
nach dem Friedensvertrag. Ist dies die Auffas-
sung der französischen Staatsmänner und des fran-
zösischen Volkes, dann besteht auch die Möglichkeit
diese Auffassung in die Wirklichkeit umzusetzen. Man
will die Eröffnung offizieller Verhandlungen von
der Wiederaufnahme der Arbeit im Ruhrgebiet ab-
hängig machen. Jeder Deutsche an Ruhr und Rhein
sehnt sich nach der Stunde, in der die freie wirt-
schaftliche Tätigkeit wieder möglich ist. Diese Stunde
wird gekommen sein, wenn wir die Sicherheit haben,
daß auf der Grundlage der deutschen produktiven
Pfandleistung die Lösung des Konfliktes möglich ist,
die der Sinn unseres passiven Widerstandes war.
Denn der passive Widerstand war nicht Uebermut
oder Selbstzweck. Wir sind bereit berechtigte For-
derungen zu erfüllen, aber wir sind nicht bereit, deut-
sches Gebiet irgend jemand preiszugeben.“
Nach dieser Darlegung der auswärtigen Politik
wandte sich der Kanzler den innenpolitischen Fragen
zu. Wir sind in einer Zeit, sagte der Kanzler, in
die Staatsgebühren und Ausgaben nur zum gering-
sten Teil durch Einnahmen gedeckt werden. Da ist
es selbstverständlich, daß es zu einer ungeheuren In-
flation und dadurch zu einer Verschlechterung der
Währung kommen muß. Schon der Rückgang un-
serer Ausfuhr in den letzten Monaten von 600 auf
105 Millionen Goldmark, zeigt, daß Deutschland
ohne Rhein und Ruhr nicht lebensfähig ist, und auch
nicht imstande ist, über irgendwelche Reparations-
verpflichtungen zu verfügen. Gegenüber dem Zustand
an Rhein und Ruhr brauchen wir eine Wehrpflicht
des Besitzes und der Arbeit. Auch brauchen wir
eine Wehrpflicht des Beamtentums gegenüber Staat
und Reich. Wir werden zu starken Eingriffen kom-
men, die das, was an wirtschaftlicher Kraft in
Deutschland ist, für den Staat in Anspruch neh-
men. Die Aufrechterhaltung des ganzen Staates
ist nur dann möglich, wenn der Besitz in ganz anderer
Weise als bisher zu Opfern herangezogen wird. Der
Wehrpflicht des Besitzes muß auch eine Wehrpflicht
der Arbeit gegenüberstehen. Wir brauchen Luft und
Liebe zur Arbeit. Da wir über die Kohlenproduktion
des besetzten Gebietes nicht mehr verfügen können,
müssen wir wenigstens im unbesetzten Gebiet das
Letzte herausholen. Ferner ist eine Hingabe des Be-
amtentums an den Staat nötig. Das Reich steht der
Kritik der letzten Zeit gegenüber dem Beamtentum
fern. Aber falls es technisch nicht mehr möglich ist,
wohlerworbene Recht aufrecht zu erhalten, und es
auch im Interesse unserer Währung liegt, müssen
dem Staat die anderen Notwendigkeiten untergeord-
net werden. Wir lassen mit der Staatsautorität
nicht Schindluder treiben, wir werden sie jedem ge-
genüber durchsetzen, der glaubt, sich über sie hinweg-
setzen zu können. Für das, was die Bürger dem
Staat geben, ist dieser zur Aufrechterhaltung der
Ruhe, Ordnung und Sicherheit verpflichtet.
   Dann sprach der Kanzler über die Steuern.
Ich möchte denjenigen, die in der letzten Zeit ihre
Einstellung zu diesen Steuern geändert haben, da-
ran erinnern, daß der Staat nicht repräsentiert wird
durch die Parteien oder die parteipolitische Einstel-
lung dieses oder jenes Kabinettes, sondern durch das
ganze System. Und jetzt handelt es sich darum,
ob das Recht bestehen bleibt. Bei manchen die-
sen Steuern und Maßnahmen, die wir noch treffen
müssen, werden wir nicht um Eingriffe in die Sub-
stanz vorbeikommen, da sich sonst die Substanz des
Staates nicht erhalten läßt.
   Eins möchte ich mit allem Nachdruck sagen: Es
geht nicht, daß irgendwo dazu aufgefordert wird,
die Steuern nicht zu bezahlen und daß entsprechende
Aufrufe erlassen werden. Wenn in dieser Zeit eine
Sabotierung der Steuern organisiert, gehört hinter
Schloß und Riegel. Was uns auf dem Gebiet der
Finanzen vor allem vorschwebt, ist die Bekämpfung
des Währungsverfalles und die Stützung der Mark.
Wir müßten längst ein wertbeständiges Geld ha-
ben, um dem Einzelnen die Möglichkeit zu geben,
aus der Spekulation und der Devisenhamsterei her-
auszukommen. Es gibt dann keine Rede mehr von
Devisenbesitz im deutschen Volke. Devisen gehören
dem Staate, der der Wirtschaft das Notwendigste zur
Verfügung stellt. Ebenfalls Devisen f. die Lebensmittel-
einfuhr, für die Stützung der Mark und auch für
die Zeit der Fortsetzung des Ruhrkampfes.
Wir stehen vor einer großen Arbeitslosig-
keit in Deutschland, die uns neue finanzielle
Lasten in der Erwerbslosenfürsorge bringen wird.
Der Reichskanzler betonte, daß es seiner Mei-
nung nach nur eine produktive Erwerbslosen-
fürsorge geben könne.
   Der Reichskanzler schloß mit folgenden Wor-
ten: Die Gegensätze zwischen dem Einzelinteresse
und dem Staatsinteresse müssen zurückgestellt
werden, wenn wir unser ohnmächtiges armes
Vaterland lieben. Wir müssen das Volk der
Arbeit sein, oder wir müssen untergehen. Ganz
Deutschland ist bedroht. Wir sind gebeugt, aber
nicht gebrochen. Gebeugt, aber nicht gebrochen
stehen wir in der Gegenwart und erwarten die
Zukunft.