31. Dezember 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 31. Dezember 1923

Bilanz für das deutsche Wirtschaftsjahr 1923 und übertragene große Herausforderungen für 1924.
                            Wirtschaftlicher Teil.
                                                –
              Die deutsche Volkswirtschaft im Jahre 1923.
       Das Jahr 1923 hatte kaum begonnen, als jenes entscheidende
Ereignis eintrat, das der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung in
Deutschland während des ganzen Jahres eine verhängnisvolle
Richtung gab. Die Besetzung des Ruhrgebietes durch Frankreich
am 11. Januar 1923 mußte mit Notwendigkeit den finanziellen
und wirtschaftlichen Zusammenbruch im unbesetzten Deutschland
herbeiführen. Der Verlust des industriell entwickeltesten Teiles
des Reiches die Stillegung des größten Kohlenzentrums – nach-
dem das zweitgrößte, Oberschlesien, fast ganz an Polen ge-
kommen war – zog an sich schon die Lahmlegung der deut-
schen Wirtschaft nach sich und machte einer Hemmung des
Währungsniederganges, der schon seit langem das Wirtschafts-
leben zu zersetzen begonnen hatte, unmöglich. Der passive
Widerstand an der Ruhr, der infolge der Notwendigkeit einen
großen Teil der nicht arbeitenden Bevölkerung des Ruhrgebietes
auf Reichskosten zu erhalten, die Reichsfinanzen infolge der
langen Dauer des Ringens völlig zerrüttete, beschleunigte nur
den Niederbruch der nach der Ruhrbesetzung doch nicht mehr
aufzuhalten war. Stammten doch im Jahre 1922 z. B. 85 Pro-
zent der deutschen Steinkohleförderungen, 84,7 Prozent der
deutschen Koksproduktion und 75 Prozent der deutschen Roh-
eisenproduktion aus dem nunmehr von den Franzosen und Bel-
giern besetzten und vom übrigen Reichsgebiet wirtschaftlich ab-
geschnürten Rhein- und Ruhrland. Der deutsche Außenhandel
schmolz so mehr und mehr zusammen, so daß schließlich die
Gesamtausfuhr, der Menge nach, nicht mehr ein Viertel der Ge-
samteinfuhr betrug. Als besonders bedenklich erwies sich die
Notwendigkeit, die stillgelegte Kohlenproduktion des Ruhrgebie-
tes durch Einfuhr ausländischer, insbesondere englischer Stein-
kohlen zu ersetzen. Dadurch gestaltete sich die deutsche Han-
delsbilanz in immer stärkerem Maße passiv, bis schließlich die
Mark unter diesen unwiderstehlichem Drucke zusammenbrach.
       Während zu Beginn des Jahres der Berliner Dollarkurs noch
7260 Mark betrug, stieg er im Laufe des Jahres allmählich bis zu
der phantastischen Höhe von 4,2 Billionen Mark empor; erst
Ende November fand dieser trostlose Zerfall infolge der geglück-
ten Stabilisierung der Mark endlich sein Ende. Die Rettungs-
aktion war dadurch möglich geworden, daß durch die Errichtung
der Rentenbank ein Teil der deutschen Wirtschaftssubstanz, des
landwirtschaftlichen wie des industriellen Besitzes, als Garantie
der neuen wertbeständigen Rentenmark herangezogen wurde.
Der durch die Rentenbank der Reichsregierung zur Verfügung
gestellte Rentenmarkkredit ermöglichte dieser die Stillegung
der Notenpresse und damit die vorläufige Stabilisierung der
Papiermark. Noch immer ist aber die Frage ungelöst, wie die
Reichsfinanzen gespeist werden sollen, wenn dieser Rentenmark-
kredit aufgebraucht sein wird. Die mit anerkennenswerter
Energie eingeleitete Sparsamkeitspolitik im Reich, in den Län-
dern und Gemeinden, die besonders in dem Abbau der Beamten
und der Beamtengehälter sich zeigt, ferner der großzügige, aber
die Wirtschaft auch außerordentlich belastenden Neuaufbau des
Steuerwesens auf Goldmarkbasis, werden gewiß, wie wir alle
hoffen, in einiger Zeit die erstrebte Bilanzierung des Reichshaus-
halts herbeiführen. In der Zwischenzeit aber bedürfen die öffent-
lichen Finanzen noch immer große Geldsummen, die wohl nur
durch eine große ausländische Anleihe herbeigeschafft werden
können. Die Entscheidung über eine solche Anleihe ist in dem
scheidenden Jahre noch nicht erfolgt. Man darf ihre Aussichten
in letzter Zeit zweifellos günstiger beurteilen, nachdem das Aus-
land gesehen hatte, welch große Anstrengungen zur Herstellung
des Budgetgleichgewichts bei uns, und zwar mit Aussicht auf
gutem Erfolg, gemacht werden. Aber das Zustandekommen der
Auslandsanleihe hängt leider letzten Endes wieder von dem gu-
ten Willen Poincares ab, da es den Verzicht der Reparations-
kommission auf die Priorität ihrer Hypothek auf den deutschen
Besitz zur Voraussetzung hat. So bleiben die Aussichten auf
eine endgültige Gesundung der deutschen Währung auch am
Jahresschluß in der Kernfrage noch immer ungewiß. Man darf
trotzdem freilich annehmen, daß die Periode der Inflation für
Deutschland nunmehr beendet ist, nachdem die Verderblichkeit
dieses Systems für das deutsche Volk auf allen Seiten endlich
erkannt worden ist.
       Man darf diese wichtige Errungenschaft des Jahres 1923
nicht unterschätzen. Zu den schwierigsten Problemen, die die
Stabilisierungskrise aufwarf, gehört zweifellos die Arbeitslosig-
keit, die im letzten Monat des vergangenen Jahres einen furcht-
baren Höhepunkt erreicht hat. Während vor einem Jahr in
Deutschland nur 42 000 unterstützte Erwerbslose vorhanden
waren, betrug deren Zahl Anfang Dezember 1923 fast dreieinhalb
Millionen. Hiervon entfielen zwar zwei Millionen auf das be-
setzte Gebiet. Aber auch die eineinhalb Millionen Erwerbslose
im unbesetzten Deutschland bedeuten eine erschreckend große
Zahl, insbesondere wenn man berücksichtigt, daß außerdem im
unbesetzten Gebiet noch 1,8 Millionen Kurzarbeiter unterstützt
werden mußten. Die Sorge für die Arbeitslosen und Kurzarbei-
ter stellt heute die schwerste Belastung der öffentlichen Finanzen
dar, und niemand hat bisher einen Weg zu zeigen gewußt, auf
dem sie vermieden oder erträglich gestaltet werden kann. Letz-
ten Endes ruht die Bürde auf den Herstellungskosten der deut-
schen Waren und hemmt so alle Bemühungen, durch Forcierung
der deutschen Ausfuhr die Handelsbilanz wieder zu verbessern.
Da nach Beendigung der Inflationszeit die deutsche Produktion
darauf angewiesen ist, auf dem Weltmarkt mit anderen Ländern
zu konkurrieren, die diese ungeheure Last nicht oder nicht in
dem gleichen Maße zu tragen haben, so bedeutet die Erhaltung
der gewaltigen Zahl der Erwerbslosen die zweite, große Sorge,
die das vergangene Jahr dem kommenden hinterläßt.    B. R.


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Stadtarchiv Solingen: RK (31. Dezember 2023). 31. Dezember 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 10. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/vf7g


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