Quelle: Stadtarchiv Troisdorf, Pressesammlung: Siegburger Kreisblatt vom 1. September 1923

Belgien verlangt in der neuen Brüsseler Note eine Erhöhung seines Anteils.

Der belgische Anspruch.
              Schlüsselzahl der Prioritäten.

   In dem Schneckengang des interalliierten Ge-
dankenaustausches über Ruhrfrage und Repara-
tion ist wieder ein Schrittchen getan worden:
Belgien hat eine Antwort von 27 Seiten an Eng-
land geschickt, die zurzeit in London mit Eifer
übersetzt und von den vorhandenen Ministern
– Baldwin und Lord Curzon sind abwesend –
studiert wird. Und während man in französischen
politischen Kreisen der belgischen Note angeblich
keine große Bedeutung beimißt, beschäftigt sich
die englische Presse eingehend mit dem Inhalt.
Besonders diejenigen Blätter, die der jetzigen
konservativen Regierung nahestehen, Times, Mor-
ning-Post und Daily Telegraph, sehen in der
belgischen Antwort einen wesentlichen Fortschritt.
Die Times sind zu der Erkenntnis gekommen
zwischen den Forderungen der Alliierten und dem
deutschen Angebot sei eine so weitgehende An-
näherung vollzogen, daß eine mündliche Be-
sprechung der neuen Vorschläge des Reichskanz-
lers Stresemann, – natürlich nur im hohen
Kreise der Verbündeten – Aussicht auf Ergeb-
nisse biete.

   Auch die beiden anderen genannten britischen
Zeitungen sind für den Abbruch des leidigen No-
tenwechsels und für mündliche Besprechungen zur
Vorbereitung einer Konferenz, und es sieht wie
eine leise Regung des völkerrechtlichen Gewissens
aus, wenn der Daily Telegraph hinzufügt, in
manchen belgischen und französischen Kreisen
herrsche leider die Neigung vor, Berlin in dieser
Frage außer acht zu lassen, als ob es bei einer
Lösung gar nicht auf Deutschland ankäme. Je-
denfalls besteht an amtlicher Stelle in London
der Wille, sofort zu verhandeln, wenn Frankreich
und Belgien bereit sind, ohne Rücksicht auf die
derzeitige Lage im Ruhrgebiet in eine sachliche
Besprechung der neuesten deutschen Vorschläge
einzutreten, und wenn sie dabei um des lieben
Friedens willen eine englische Bedingung er-
füllen, nämlich Konzessionen über die letzte Pa-
riser und Brüsseler Note hinaus zu machen.
   Wie stellt sich nun die Brüsseler Note ein?
Sie gibt sich zweifellos Mühe, zwischen sich und
dem starren Standpunkt Poincares einen ge-
wissen Zwischenraum zu schaffen. Belgien ist
zu einem Kompromiß bereit und verlangt keine
vorherige grundsätzliche Annahme seiner An-
sprüche. „Das klingt beinahe zuvorkommend. Aber
nach einigen begütigenden Hinweisen auf die nur
vorläufige und rein pfandmäßige Be-
setzung des Ruhrgebietes kommt die Brüsseler
Note doch sehr ernsthaft auf die belgische Prio-
rität zu sprechen, und da stellt sich heraus, daß
Belgien von England vor Neuregelung der Re-
parationen sozusagen einen neuen Rütlischwur
auf diese Priorität erwartet. Belgien sieht in
seinem Vorrecht an den deutschen Zahlungen
nichts anderes als die Folge und die Durchfüh-
rung der von den Alliierten während des Krieges
eingegangenen Verpflichtungen. Diese Verpflich-
tungen hätten die Retter Belgiens ohne „Vorbe-
halt“ soll heißen ohne Hintergedanken übernom-
men. Ja, „versöhnlicher Absicht“, so sagt die
Brüsseler Note weiter, habe Belgien bedeutsame
Zugeständnisse gemacht, und diese seien ein Be-
weis dafür, daß Belgien seit drei Jahren nicht
aufgehört habe, sein Prioritätsrecht zurückzustel-
len zum Schaden seiner eigensten Interessen und
zum Vorteil der Alliierten, um die Entente auf-
recht zu erhalten. Damit teilt das kleine Bel-
gien den großen Genossen recht bittere Vorwürfe
aus. Insbesondere widerspricht Belgien sehr
energisch der englischen Behauptung, daß es mit
seinen bisherigen 1,5 Milliarden Goldmark „Ver-
dienst“ auf Konto der Priorität weit mehr als
jedes andere Land erhalten habe. Als Eideshelfer
werden die von dem Wiederherstellungsausschuß
veröffentlichen Ziffern der deutschen Zahlungen
herangezogen. Und kurz und gut: Belgien nimmt
zwar mit Genugtuung Kenntnis von der Ver-
knüpfung der Reparationsfrage und dem Pro-
blem der interalliierten Schulden, es stimmt auch
für eine beträchtliche Herabsetzung der deutschen
Schuld, aber es verlangt eine Erhöhung des bel-
gischen Anteils und es wiederholt den Vorschlag
die Verteilung „unter Berücksichtigung der zer-
störten Gebiete“ vorzunehmen. „Zerstörte Ge-
biete“ seien der Gesamtkomplex des materiellen
Schadens, den alle alliierten Länder, also auch
Großbritannien erlitten hätten, – eine etwas
merkwürdige Begriffserweiterung.
In London geht man mit einer halbamtlichen
Andeutung bereits auf diesen Kernpunkt der
Brüsseler Note ein: Anerkennung der belgischen
Priorität, auch wenn die deutsche Schuld von
132 auf 50 Milliarden Goldmark herabgesetzt
werden sollte. Einzige Bedingung: Der Ver-
teilungsschlüssel von Spa, wonach England 22
Prozent jeder deutschen Zahlung erhalten soll,
muß beibehalten werden. Die deutsche Diplomatie
wird trotz aller Bedrängnis am besten noch ab-
warten, bis die Sieger zunächst wieder über die
Ziffern und Schlüssel der Reparation einig ge-
worden sind.