24. November 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 24. November 1923

Beurteilung, wie die neue Währung, die Preisbildung und die Einkommen in ein angemessenes Verhältnis gebracht werden können und was in dieser Hinsicht derzeit falsch läuft.

                                  Aus Stadt und Umgegend.
                                                                             Solingen. 24. November.

                  Die neue Währung – Preise – Einkommen.
                          Im Hinblick auf die beantragte Behandlung dieser Fragen
                      in der Solinger Preisprüfungsstelle empfehlen wir die fol-
                      genden Ausführungen der besonderen Beachtung unserer
                      Leserschaft.
                            Die  Schriftleitung des „Solinger Tageblattes“.
       In der deutschen Wirtschaft gehen z[ur] Z[ei]t erhebliche Veränderungen
vor sich. Die letzten Gruppen stellen sich in diesen Tagen von der
Papiermarkrechnung auf die Goldmarkrechnung um. Nebenher läuft
die Einführung einer anderen Währung als sogenannte Zwischenlösung.
Bei der Verfassung, in der sich die deutsche Volkswirtschaft befindet,
ist es verständlich, daß Reibungen nicht ganz vermieden werden. Alle
an der Wirtschaft Beteiligten sollten sich aber bemühen, diese Schwierig-
keiten und Hemmnisse auf ein Mindestmaß zu beschränken. Nach erfolgter
Umstellung werden wir klarer sehen. Wenn die großen Zahlen der
Inflationsperiode verschwunden sein werden, wird sich herausstellen,
daß wir ein armes Volk sind, das sehr, sehr sparsam wirtschaften und
genau einteilen muß, um alle seine Glieder über diese Zeit hinweg zu
bringen. Auch unsere Feinde und das übrige Ausland werden dann
mit noch viel größerer Deutlichkeit erkennen, wohin sie Deutschland
gebracht haben. Je eher also Klarheit geschaffen wird, um so besser
für uns.
       Im Innern Ordnung zu schaffen, ist Aufgabe eines jeden Einzel-
nen. Ein großes Durcheinander hat sich in den letzten Tagen und
Wochen auf dem Markt ergeben. Hervorgerufen durch den Waren-
mangel und die üblen Währungsverhältnisse, vergrößert durch die
Politik der Regierung, indem sie den amtlichen Devisenkurs auf einer
Höhe festhielt, der zu wirtschaftlichen Stockungen führte, will jetzt ein
jeder noch retten, was zu retten ist, d. h. für sich und seinen Vorteil.
Produzenten und Großhändler versuchen alle Risiken durch Erhöhung
der Preise und scharfe Zahlungsbedingungen auf den Kleinhandel abzu-
wälzen. Dieser aber will ebenfalls nicht der Leidtragende sein und
greift zu den gleichen Maßnahmen den Konsumenten gegenüber. Diese,
in der Mehrzahl Festbesoldete, suchen einen Ausgleich durch Herauf-
schraubung ihrer Bezüge. Der Geschädigte ist der Schwächste und das
ist in der Regel der Arbeitnehmer mit Einschluß all der kleinen Gruppen,
die man zum Mittelstand zählt. Die Wirkung dieses Kreislaufs ist,
daß bei diesen Gruppen – und sie bilden den größten Prozentsatz der
Konsumenten – die Kaufohnmacht eintreten muß. Der Einzelhandel
wird seine Waren nicht los, der Großhandel kann ebenfalls nicht ver-
dienen, die Industrie leidet an Auftragmangel und kommt zur Ein-
schränkung oder gar zur Stillegung. Dieser Tatbestand hat den
Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband (D. H. V.) veranlaßt, bei
der Preisprüfungsstelle Solingen eine Sitzung zwischen Produzenten,
Händlerschaft und Konsumenten zu beantragen, in der folgende For-
derungen beraten werden sollen:
       1. Einwirkung auf die Regierung, den amtlichen Kurs jeweils den
           ausländischen Notierungen anzupassen.
       2. Einführung von Grundpreisen, die sich nach den Gestehungspreisen
           richten, d. h. sie müssen eine kalkulatorische Grundlage besitzen.
       3. Der Multiplikator ist der amtliche Dollarkurs, den Dollar zu 4,20
           Mark gerechnet.
       4. Bei Zahlung in Papiermark ist für die Dauer, wo sie noch als
           Zahlungsmittel gilt, in die Grundpreise ein näher zu vereinbaren-
           der Prozentsatz Geldentwertungsrisiko einzuberechnen.
       5. Bei Zahlung in wertbeständigen Zahlungsmitteln ist ein Rabatt
           in der unter 4 berechneten Höhe zu gewähren.
       6. In den Schaufenstern müssen Grund- und Schlüsselzahlen ausge-
           zeichnet werden. Die Schlüsselzahl gilt stets für einen Tag und
           zwar von 3 Uhr nachmittags bis 3 Uhr des nächsten Tages.
       7. Die Grundpreise dürfen nur einen Gewinnprozentsatz enthalten,
           der um ein Drittel gegenüber dem früheren Gewinn verkürzt ist.
       8. Stärkere Einwirkung auf die Preisbildung in der Industrie und
           im Großhandel; Verpflichtung für den Kleinhandel, bei zu hohen
           Einkaufspreisen Anzeige zu erstatten.

           Zu diesen Forderungen wäre zu sagen:
           Da der Kleinhandel zum amtlichen Zwangskurs nicht wieder ein-
kaufen kann, hilft er sich durch Heraufsetzung der Grundpreise. Aus
dem Grunde nützt ein Zwangskurs nichts. Die Grundpreise sollen sich
nach den tatsächlichen Gestehungskosten richten und nicht ganz will-
kürlich, wie wir das seit Jahr und Tag haben, nach irgend welchen
anderen Faktoren festgesetzt werden. Weite Kreise unseres Volkes
verzichten auf ein Drittel und mehr ihres Friedenseinkommens. Des-
halb ist die Forderung an die Unternehmer, ebenfalls auf ein Drittel
ihres Gewinnprozentsatzes zu verzichten, nur zu berechtigt. Der Ein-
wand, daß durch den geringeren Umsatz bereits ein Verzicht vorliege,
ist deshalb nicht stichhaltig, weil ein Herabsetzen des Gewinnprozent-
satzes eine Verbilligung der Waren bringt. Dadurch wird der Konsum
größer, der Umsatz und damit der Gewinn vermehrt sich. Also: Viel
Umsatz – kleiner Gewinn und nicht kleiner Umsatz – großer Gewinn.
       Eine genaue Errechnung des Preises einer Ware bedingt auch, daß
man bei der Feststellung des Multiplikators den Dollar zu M[ar]k 4,20
und nicht, wie das schon so gang und gebe ist, zu Mk. 4,- einsetzt.
Eine Meinungsverschiedenheit über das Einrechnen eines Geldent-
wertungsrisikos in die Warenpreise besteht wohl nicht, weil es in der
Praxis seit langem so gehandhabt wird. Der Prozentsatz soll für die
gleiche Ware aber dann der gleiche sein, damit bei Zahlung in wert-
beständigen Zahlungsmitteln ein entsprechender Rabatt gewährt
werden kann.
       Der Einzelhandel ist weniger der schuldige Teil. Er treibt diese
Politik, weil sie ihm der Großhandel und die Industrie vormacht.
Irgendwelche Rücksichten werden ja bekanntlich nicht mehr genommen.
Die Monopolstellung der Kartelle und Syndikate schaltet jede Kon-
kurrenz aus. Der Kleinhandel darf aber nicht so ohne weiteres alles
mitmachen, sondern muß verpflichtet werden, bei zu hohen Einkaufs-
preisen Anzeige zu erstatten.
       Die bisherige Wucherbekämpfung und Preisprüfung hat so gut
wie keinen Erfolg gehabt. Wenn überhaupt auf diesem Gebiete etwas
Positives getan werden kann, so kann es nur durch Zusammenfassung
all‘ derjenigen Kräfte geschehen, die im Materialismus dieser Tage
noch nicht ganz erstickt sind und daneben den nötigen Sachverstand
mitbringen.                                                                              Norwig.


Wenn Sie sich die vollständige Ausgabe des Solinger Tageblatts ansehen möchten, klicken Sie auf den Link: Solinger Tageblatt vom 24. November 1923


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Stadtarchiv Solingen: RK (24. November 2023). 24. November 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 18. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/afmh


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