Quelle: Stadtarchiv Troisdorf, Pressesammlung: Siegburger Kreisblatt vom 27. Juli 1923
Angesichts des steten Währungsverfalls sei zu befürchten, dass nach Breslau und Frankfurt am Main auch Berlin von Ausschreitungen getroffen würde. Linksradikale Agitatoren nutzten die aktuelle Lage aus. Die Schuld liege letztendlich im politischen Versagen der Regierung, die Inflation und französischer Besetzung nicht Herr würde und die Unsicherheit in der Bevölkerung anfache.
Putsch-Stimmung.
Die Lage in Berlin.
Erst Breslau, dann Frankfurt a. M. Dann?
Die Revolten und Putsche der ersten Nachkriegs-
zeit gingen fast alle nicht zunächst von Berlin
aus. War die Viermillionenstadt aber in den
Wellengang der Unruhen geraten, so begann das
Staatsschiff zu schwanken und zu schlingern, bis
es – kenterte. Sitzen die Steuerleute diesmal
fester auf ihrem Posten? In der Berliner
Stadtverordnetenversammlung soll am heutigen
Donnerstag ein Dringlichkeitsantrag wegen der
Lebensmittelpreise eingebracht werden. Was
wird dabei herauskommen, als eine erneute Auf-
forderung an die Regierung, gegen den Wucher
vorzugehen? Aber keine Wucherpatrouille und
kein Schieberprozeß haben dem Verbraucher, der
seit Jahr und Tag auf dem Folterbett der Teuer-
rung stöhnt, auch nur die mindeste Linderung ge-
bracht. Die Preispanik ist die unmittelbare
Folge des Währungsverfalls. Sie flutet un-
aufhaltsam wie eine Lawine vom Erzeuger über
den Großhandel herab in alle Märkte,
Läden, Buden und Kontore.
Auch auf dem Berliner Lebensmittelmarkt
spitzen sich die Verhältnisse von Tag zu Tag zu.
Die Hausfrauen kommen schon in frühester Mor-
genstunde in die Markthallen und auf die offe-
nen Märkte. Das traurige Bild der „Kriegs-
schlangen“ vor den Läden bietet sich wieder. Denn
jeder sucht noch von den „preiswert“ angezeig-
ten Waren zu ergattern, was ihm die immer
dünner werdende Geldtasche erlaubt. Setzt der
Händler, selber von den Sorgen des neuen Ein-
kaufs (der Wiederbeschaffung) gepeinigt, die
Preise hinauf, so beginnt der Tumult. Gereizt
und erbittert sind alle. Einer hebt einen Stein
auf. Die Ladenscheibe klirrt zu Boden. Und
während ein Politikus Brandreden hält, plün-
dern die Praktischen. So ging es in Breslau.
Man verhaftete 1200 Menschen. Man siebte ein
Paar Radaubrüder heraus. Die Drahtzieher
bleiben meist in Sicherheit.
Wer sind aber die Drahtzieher? Die Aus-
schreitungen in Frankfurt a. M. gingen von
einer Kundgebung aus, die der örtliche Kommu-
nismus auf dem Römerberg gegen Wucher und
Faszismus veranstaltete. Die traurigste Szene
dieser Revolte, die Ermordung des Staatsan-
walt Dr. Haas, war ein Racheakt, der kommuni-
stisch Verhetzten. Gerade die Verkoppelung der
beiden Schlagworte: gegen den Wucher und ge-
gen den Faszismus ist bezeichnend für die Ab-
sichten der Linksradikalen. Auf den 29. Juli
sind unter der Marke „Anti-Faszismus“ im gan-
zen Reiche große Kundgebungen der Kommuni-
sten angesagt, und damit ist der Rechtsradikalis-
mus auch überall dort herausgefordert, wo er
nichts anderes im Sinne hat, als sich der be-
stehenden Ordnung zur Verfügung zu stellen.
Wie stellt sich nun die „bestehende Ordnung“,
d. h. die Regierung zu der bereits riesengroß
drohenden Gefahr des Bürgerkrieges ein? Die
Zustände auf dem Devisenmarkt, also die Wäh-
rungs- und Teuerungsfrage sind in den letzten
Tagen einfach unhaltbar geworden. Es fehlt
jede Uebersicht darüber, was gestern erlaubt war,
was heute verboten oder morgen schon wieder er-
laubt ist. Keine 24 Stunden vergehen ohne
Aenderung der devisenpolitischen Bestimmungen
und ohne das in irgendeinem Ministerium Be-
ratungen stattfinden. Die Maschine arbeitet
zwar, aber es herrscht die bedenklichste Zer-
fahrenheit. Reichsfinanzministerium, Reichs-
wirtschaftsministerium und Reichsbank regieren
neben- und gegeneinander. Dazu kommen noch
andere Fehler, hilflose Beruhigungsnotizen, un-
zulängliche Auskunftserteilung über die wichtig-
sten politischen Vorgänge, vollständiges Versagen
der deutschen Diplomatie gegenüber dem eng-
lisch-französischen Reparationskonflikt, keine
Aussicht auf neue, einheitliche Maßnahmen zur
Durchführung des Regierungsprogramms, end-
lich Ungeschicklichkeiten in der Führung politi-
scher Prozesse, wie des Ehrhardtprozesses. Alles
das sind Dinge, die in einem kritischen Augen-
blick nur Unruhe und Unsicherheit in die breite
Masse des Volkes tragen. Wenn die Regierung
Cuno jetzt nicht mit einem energischen Schritt
und einem rettenden Gedanken aus ihrer kaum
noch begreiflichen Zurückhaltung hervortritt, ist
sie und mit ihr vieles andere verloren. F. A.
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Stadtarchiv Troisdorf (27. Juli 2023). 27. Juli 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 15. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/afk2