Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 31. März 1923
Der Solinger Wirtschaft wird eine düstere Zukunft inklusive Massenarbeitslosigkeit prognostiziert, sollte die Politik die augenblicklichen Rahmenbedingungen für die Wirtschaft nicht verändern.
Wirtschaftlicher Teil.
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Zur Lage der Solinger Industrie.
Nachdem wir uns im Interesse einer ungestörten Fortentwick-
lung der wirtschaftlichen Verhältnisse im Solinger Industrie-
bezirk in Uebereinstimmung mit verschiedentlich von autentischer
Seite ausgesprochenen Wünschen seit den Jahresabschlußberich-
ten zu Anfang Januar über die Lage der Solinger Industrie
ausgeschwiegen haben, erscheint es uns zweckmäßig und erfor-
derlich, am Ende des ersten Vierteljahres, einen kurzen Ueber-
blick über das in den letzten Monaten Geschehene zu geben.
Die Verhältnisse haben sich nach der anfänglichen Unsicherheit
über den Verlauf und die Auswirkungen der Ruhrbesetzung in
den letztvergangenen Wochen auch so geklärt, daß die Nieder-
schrift eines Ueberblickes über den gegenwärtigen Stand der
Dinge und Andeutungen über die Gestaltung in der allernächsten
Zukunft sich ermöglichen und aus gewissen Gründen auch er-
forderlich erscheinen.
Während die letzten Monate des Jahres 1922 trotz nicht
unbedeutender Störungen noch im Zeichen eines recht lebhaften
Geschäfts und einer umfangreichen Produktion standen und auch
die erste Hälfe des Monats Januar eine wesentliche Veränderung
nicht gebracht hatte, verschob sich das Bild seit dem Einmarsch
der Franzosen in das Ruhrgebiet infolge des damit einsetzenden
Sturzes der deutschen Mark, vor allem aber infolge der Ausfuhr-
erschwerungen durch die französischerseits eingerichteten Kon-
trollorgane vollständig. Die im Anschluß an die Devisenentwick-
lung ins Uferlose steigenden Rohrmaterialpreise und Gestehungs-
kosten, sowie die rascher als früher gestiegenen Löhne ließen
die Preise für Solinger Stahlwaren auf eine Höhe hinaufschnel-
len, die eine starke Zurückhaltung seitens der Kundschaft zur
Folge hatte. Das größte Verhängnis aber war, daß nach dem
Sinken der Devisen in der ersten Hälfte des Februar die Rohma-
terialpreise kaum, die Löhne garnicht abgebaut werden konnten,
so daß die Inlandspreise in jener Zeit die Ausfuhrpreise über-
schritten, daß also die Produktionskosten für Solinger Stahlwaren
eine Höhe erreichten, die den Absatz so gut wie ganz unmöglich
machte. Die im Anfang des Monats März unter außerordentlich
ungünstigen Verhältnissen abgehaltene Leipziger Frühjahrsmesse
blieb in Auswirkung dieser Sachlage fast ohne jeglichen Erfolg,
und die Preise mußten zum Teil stark herabgesetzt werden, um
Aufträge zu erhalten. Dieser Zustand, der heute noch vor-
herrscht, und die heute so gut wie gänzliche Unmöglichkeit,
Waren herauszuschaffen, haben in den letzten Wochen eine durch
eingetretenen Mangel an Rohmaterial und Brennstoffen beschleu-
nigte Arbeitslosigkeit von außerordentlichem Maße herbeige-
führt die Arbeitgeber und Arbeitnehmer in gleichem Maße be-
lastet. Zu diesen Gründen gesellt sich noch ein starker Mangel
an flüssigem Betriebskapital, sodaß gegenwärtig die Aussichten
für die nächste Zukunft sehr düster erscheinen. Wie lange die
von den meisten Betrieben mit einer bedeutend herabgesetzten
Arbeiterzahl eingeführte Arbeit auf Lager durchgeführt werden
kann, läßt sich heute noch nicht übersehen. Es hängt in jedem
einzelnen Falle von dem flüssigen Kapital ab, über das ein Unter-
nehmer verfügt. Dieses aber muß sehr bald zusammenschrump-
fen, da infolge der Unmöglichkeit eines umfangreichen Absatzes
die Betriebsmittel aus laufenden Einnahmen nur in unbedeuten-
dem Umfange ergänzt werden können.
Eine Unmöglichkeit der Ergänzung der Betriebsmittel für die
Durchführung der Lagerarbeit, die durch die Rhein- und Ruhr-
hilfe gegeben ist, wird in den meisten Fällen nur ungern ausge-
nutzt. Und es ist allerdings mit einem Zurückgreifen auf dieses
Mittel ein großes Risiko verbunden, daß ein scharf rechnender Ge-
schäftsmann es nicht leichtherzig übernehmen kann. Es handelt
sich nämlich dabei nicht etwa um Zuschüsse seitens des Reichs,
wie sie den erwerbslos werdenden Arbeitern zur Verfügung ge-
stellt werden, sondern um die Aufnahme eines nicht billigen
Markkredits, dessen Abtragungsmöglichkeit durch einen Um-
schwung auf dem Valutamarkt zugunsten der Reichsmark stark
in Frage gestellt werden kann. Die Aufnahme eines weniger
gefährlichen Valutakredits dagegen ist nur in Ausnahmefällen
möglich. Bei einem Fortbestehen des jetzigen Zustandes auf
politischem und wirtschaftlichem Gebiet muß also in den meisten
Fällen auch die Lagerarbeit in absehbarer Zeit zum Stillstand
kommen und die Zahl der Erwerbslosen, die heute schon einige
Tausend beträgt, schnell ansteigen, ohne daß den Unter-
nehmern ein berechtigter Vorwurf gemacht werden könnte.
Immerhin dürfte es sich empfehlen, die in dieser Richtung hin
sich eröffnenden Fragen in den Kreisen der Solinger Fabrikan-
tenschaft eingehend durchsprechen zu lassen, um unnötige Härten
gegenüber den Arbeitern in weitestmöglichem Umfange zu ver-
meiden. Es bedarf z. B. eines kräftigen Hinweises darauf, daß
eine Lagerarbeit mit vorhandenen, also nicht angeliehenen,
flüssigen Mitteln selbst bei einer Markbesserung und einem damit
verbundenen Preisrückgang keinen Verlust bedeutet, da der
innere Wert der erzeugten Ware erhalten bleibt und mit den
aus einem späteren Verkauf hereinkommenden Mitteln infolge
des Zusammenhangs zwischen der Geld- und Preiskurve die
Gestehungskosten für die spätere Ware gedeckt werden können.
Was die Erhaltung des Absatzes im übrigen angeht, so wäre
zu untersuchen, ob eine Herabsetzung der Ausfuhrmindestpreise
möglich ist und einen Erfolg verspricht. Soweit wir unterrichtet
sind, wird diese Frage auch bereits ventiliert, ohne jedoch bisher
zu einer Lösung gekommen zu sein. Mit dieser Frage aufs
engste verbunden ist die einer Herabsetzung der Belastung bei
der Ausfuhr, also der Ausfuhrabgabe und der Pressebeiträge.
Wenn wir auch in Uebereinstimmung mit maßgebenden Kreisen
der Solinger Industrie auf dem Standpunkt stehen, daß die Aus-
fuhrabgabe im Interesse der Gesamtvolkswirtschaft und mit
Rücksicht auf besonders gelagerte Verhältnisse im Solinger
Wirtschaftsgebiet grundsätzlich im Rahmen einer Außenhandels-
kontrolle von unschätzbarem Werte ist, und diesen Standpunkt
auch des öfteren vertreten haben, so scheint uns doch heute
der Augenblick gekommen, wo ein Abbau vielleicht die zeitweise
gänzliche Aufhebung der Ausfuhrabgabe und die Verteilung der
aus ihrer Erhebung sich ergebenden großen und notwendigen
Einnahmen des Reiches auf eine breitere Zahlerschicht sich als
notwendig erweist. In dieser Beziehung stimmt das Interesse
und der Wunsch der Solinger Industrie im allgemeinen mit dem
überein, was, wie auch im „Solinger Tageblatt“ veröffentlicht,
in jüngster Zeit über die Bestrebungen bezüglich eines zeitweisen
Abbaues der Ausfuhrabgabe bekannt geworden ist.
Damit sind die wichtigsten Momente der gegenwärtigen
Lage der Solinger Industrie gestreift und die Fragen angedeutet,
die einer Lösung entgegengeführt werden müssen. Wir hoffen
im Interesse der Industrie wie ihrer Arbeiterschaft, daß ein Um-
schwung der allgemeinen Verhältnisse eine recht baldige Auf-
nahme der Arbeit und der Ausfuhr ermöglicht, wobei jedoch
immer bedacht werden muß, daß die Herbeiführung eines Um-
schwunges nicht in der Macht der Wirtschaft, sondern der Po-
litik liegt. H.
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Stadtarchiv Solingen: RK (31. März 2023). 31. März 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 8. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/ae38