17. März 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 17. März 1923

Sogar das Solinger Tageblatt fordert in seiner beachtenswerten Analyse der aktuellen wirtschaftlichen Lage deutliche Preissenkungen oder massive Lohnerhöhungen.

                                  Wirtschaftlicher Teil.
                                                    –
                               Preis- und Lohnfragen.
       Das Nichtzustandekommen eines Schiedsspruches über die
Lohnforderungen der Solinger Fabrikarbeiter hat eine außer-
ordentliche Bedeutung grundsätzlicher Art und ist ein sprechen-
des Symptom für die ungesunde Lage, in der sich unser Wirt-
schaftsleben heute befindet. Zu dieser Auffassung der Sachlage
kommt man immer mehr, wenn man sich bemüht, die durch das
Nichtzustandekommen eines Schiedsspruches in der Solinger In-
dustrie hier zunächst örtlich geschaffene Lage im Rahmen der
gegenwärtigen volkswirtschaftlichen Begebenheiten in unserer
Gesamtwirtschaft hineinzustellen und sie von dieser höheren
Warte aus einer Beleuchtung zu unterziehen.
       Wenn wir die letzten acht Wochen deutscher Volkswirtschaft
näher betrachten, so ist zunächst folgendes festzustellen: Die
Urstoffe, vor allen Dingen Kohle und Eisen, die schon seit mehr
als Jahresfrist das Niveau des Weltpreisstandes erreicht hatten,
sind während der Marktentwertung im Januar und Februar ihrer
vorherigen Entwicklung treu geblieben. Sie haben jedoch der
in der zweiten Hälfte des Februar eingetretenen mehr als
fünfzigprozentigen Besserung des Markwertes so gut wie gar
keine Rechnung getragen und liegen daher heute weit über dem
Weltmarktpreis. Das ist umso bedeutsamer, als die Preise
beider Urstoffe, besonders die Kohlenpreise, einer ständigen
Kontrolle durch die Reichsregierung unterliegen und die Kohlen-
preise sozusagen von der Regierung und unter Mitwirkung von
Verbrauchervertretern festgesetzt werden. Wenn die Regie-
rung sich in den letzten Tagen bemüht hat, die Oeffentlichkeit
dadurch zu „beruhigen“, daß sie erklärte, es werde vorläufig
nicht an eine weitere Heraufsetzung der Kohlepreise gedacht,
und wenn die Eisenproduzenten sich beeilten, für ihre Erzeug-
nisse ähnliche Versicherungen abzugeben, so sind diese Auf-
klärungen kaum anders zu verstehen, wie als ein Versuch, die
Oeffentlichkeit in einer gänzlich ungeeigneten Weise über die
wirklichen Verhältnisse auf dem Gebiete der Preispolitik für die
deutschen Urstoffe hinwegzutäuschen. In Wirklichkeit liegen
die Dinge doch so, daß die Preise für beide Produkte einen
Stand erreicht haben, der durch gar keine Valutaverhältnisse
oder andere Gründe, wie sie vorher für die Rechtfertigung der
Preissteigerungen auf diesem Gebiete mit Fleiß herangezogen
wurden, mehr erklärt und gerechtfertigt werden können. Die
Oeffentlichkeit, in diesem Falle die gesamte weiterverarbeitende
Industrie und die letzten Verbraucher, hat das Recht und die
Pflicht, einen starken Abbau dieser beiden Preisgruppen kate-
gorisch zu verlangen und die Durchsetzung dieser Forderung
mit allen Mitteln zu vertreten. Eine der schwerstwiegenden
Folgen der hohen Preise der Urstoffe, die, wie die Kohle, nicht
nur zum Betriebe auch der kleinsten Fabriken gebraucht werden
und dort produktionsverteuernd wirken, sondern auch in Form
von unentbehrlichem Hausbrand unmittelbar in den Haushalts-
rechnungen jedes einzelnen zum Ausdruck kommen, ist die, daß
sie einen Ueberweltmarktpreis für fast alle übrigen Erzeugnisse
der deutschen Industrie auf die Dauer zur Folge haben müssen.
Dieser Zustand, den wir gerade im Zeichen des Ruhrabwehr-
kampfes, darüber hinaus aber im Interesse der Konkurrenz-
fähigkeit der deutschen Industrie auf dem Weltmarkt und schließ-
lich im Interesse der Erhaltung der Aufnahmefähigkeit für die
deutschen Industrieerzeugnisse auf dem inländischen Markt un-
bedingt vermeiden müssen, ist aber teilweise bereits eingetreten.
Daraus ergibt sich abermals die Forderung, eine rückläufige
Preisentwicklung für die Urstoffe unverzüglich in Angriff zu
nehmen, um eine Arbeitslosigkeit von ungeahntem Umfange für
die allernächste Zeit zu vermeiden. Um diese Entwickelung zu
fördern, muß die Regierung auch auf einen Teil der Kohlensteuer
verzichten. (Was unterdessen, wie heute vormittag gemeldet
wird, vorläufig abgelehnt worden ist. Die Kohlensteuer bleibt
nach wie vor auf 40 Prozent bestehen.)
       Es ist des weiteren festzustellen, daß auch die Warenpreise,
die seit einiger Zeit den Bewegungen der Devisenkurse kurz-
fristig gefolgt sind, keine oder nur geringe Neigung zeigen, sich
nach dem Rückgang der Devisenpreise, der rückläufigen Bewe-
gung anzuschließen. Da, wo sie es tun – man denke an die
finanziellen Schwierigkeiten im Getreide- und Mehlhandel –
tun sie es nicht deswegen, weil die Markbesserung ohne wei-
teres der Anlaß dazu sein sollte, was folgerichtig wäre, sondern
weil eingetretene Geldschwierigkeiten und Mangel an flüssigen
Mitteln die Warenbesitzer zwingen, unter allen Umständen große
Bestände zu verkaufen, um zu flüssigem Gelde zu kommen.
Hier ist also der vorher so scharf vertretene und verfochtene
Grundsatz des Wiederbeschaffungs- oder Wiederherstellungs-
preises verlassen, eine Tatsache, die der Verbraucher nicht über-
sehen kann, und die ihn diesem schon fast anerkannten Grund-
satz gegenüber zu Schlußfolgerungen zwingt, die dem Handel
in einer anderen Lage sehr unangenehm werden dürften. Die
Folge der Hochhaltung der Preise drückt sich auch in dem Meß-
ziffern aus. So ist z. B. die Großhandelsmeßziffer, die vom
Januar zum Februar (Höchststand 5. Februar) außer der vorher-
gegangenen Steigerung nochmals um 100 Prozent zugenommen
hatte, in der Zeit bis zum 5. März nur um 14 Prozent zurück-
gegangen. Die eingeführten Lebensmittel haben allerdings eine
Preissenkung um 36 Prozent erfahren, dagegen haben gerade
die inländischen Lebensmittelpreise sich kaum merklich verän-
dert, und die Industriestoffe weisen gar eine Preissenkung um
nur 1,4 Prozent gegenüber dem Höchstand auf.
       Die Stützungsaktion der Regierung für die Reichsmark war
außerordentlich zu begrüßen. Sie verfehlt aber völlig ihren
Zweck, wenn es der Regierung nicht gelingt, eine angemessene
Senkung der Warenpreise durchzusetzen und dadurch die Ge-
fahren der Ueberweltmarktpreise zu bannen und einen Stillstand
auch in die Lohnbewegung hineinzubringen. Wird nämlich die
Herabsetzung des innerdeutschen Preisniveaus nicht in allerkür-
zester Frist erreicht, dann ist es ganz ausgeschlossen, daß die
Arbeitnehmer, die die Regierung bisher unter großen Opfern in
der Ruhrabwehr so treu und selbstlos unterstützt haben, auf
weitere Lohnerhöhungen verzichten, wie es der Reichskanzler
gelegentlich der Verhandlungen mit den Beamten und Staats-
arbeitern ausdrücklich gewünscht hat. Denn es ist weder von
der Regierung noch von der Industrie irgendwie abzuleugnen,
daß die Löhne in allen Berufen – die geistigen bilden ein be-
sonders trauriges Kapitel – trotz der fortwährenden Erhöhungen
in den letzten Monaten dem Tempo der Steigerung der Lebens-
haltungskosten nicht haben folgen können und in ihrem Realwert
die Höhe der vor einem Jahre gezahlten Löhne, geschweige denn
der Vorkriegslöhne, nicht im entferntesten erreicht haben und
weiter aufgebaut (heißt jetzt besser: angeglichen) werden müs-
sen, wenn der dringend notwendige Ausgleich nicht von der
Seite der Warenpreise her, also durch Preissenkung, in kürzester
Zeit herbeigeführt werden kann. Aus diesem Grunde ist es auch
seitens der Industrie nicht der richtige Weg, einer heute gestell-
ten Lohnforderung ihre innere Berechtigung an Hand von Stati-
stiken aus den letzten drei bis vier Wochen ohne weiteres ab-
sprechen zu wollen. Ein derartiges Unterfangen wäre nur ge-
eignet, Mißstimmungen heraufzubeschwören, deren Folgen kaum
übersehbar sind. Eine andere Frage ist natürlich die, ob der
jeweilige Industriezweig im Augenblick in der Lage ist, eine
Lohnerhöhung zu ertragen, eine Frage, die natürlich von sehr
verschiedenen Seiten aus betrachtet werden kann.
       Damit kommen wir auf die Lage in der Solinger Indu-
strie zurück. Wir teilten schon mit, daß sowohl die Arbeit-
nehmer auf ihren Forderungen als auch die Arbeitgeber auf ihrer
Ablehnung beharrten und daß ein Schiedsspruch deswegen nicht
zustande gekommen ist, weil der Vorsitzende des Schlichtungs-
ausschusses sich der Stimme enthielt. Der Grund für diese
Stimmenthaltung kann verschiedener Natur sein. Es wäre ver-
ständlich, wenn er darauf zurückzuführen wäre, daß der in
Frage kommende Beamte nicht die Verantwortung dafür über-
nehmen wollte, sich in Gegensatz zu den Richtlinien der Re-
gierung zu setzen, indem er sich für eine Lohnerhöhung aus-
sprach. Daß er sich aber auch nicht gegen eine Lohnerhöhung
aussprach, zeigt, daß er den Forderungen der Arbeiterschaft an
sich die Berechtigung nicht absprechen konnte. Ein maßgeb-
liches Urteil über die Leistungsfähigkeit der Industrie kann man
ihm in diesen unklaren Verhältnissen billigerweise nicht abver-
langen. Darauf aber kommt es im Augenblick an. Das Nicht-
zustandekommen eines Schiedsspruches unter den hier gegebenen
Umständen bleibt daher ein Symptom für eine ganz undurchsich-
tige und ungesunde Lage unserer Wirtschaft, die einer Klärung
nach der einen oder anderen Seite hin dringender als je bedarf.

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Stadtarchiv Solingen: RK (17. März 2023). 17. März 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 8. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/ae33