Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 16. November 1923

Akute Notlage der Hilfsbedürftigen: Der Stadt Wald wurden wegen Überzahlung der Arbeitslosen die Reichs- und Staatszuschüsse gestrichen. Der Stadtverwaltung fehlt daher „jede Möglichkeit“, den aktuellen Forderungen der Erwerbslosen nachzukommen. Bei Verhandlungen zwischen Vertretern der Stadt, Walder Unternehmern, Kleinhändlern und Erwerbslosen können keine sofortigen Hilfsmaßnahmen erreicht werden, so dass es zu Ausschreitungen kommt und die Unternehmer von einer Gruppe Erwerbsloser gewaltsam zu einer zweiten Verhandlung gezwungen werden.

                         Zur Erwerbslosenfürsorge in Wald.
       Von der Walder Stadtverwaltung wird uns geschrieben: „Einer
Forderung der Erwerbslosen folgend, die am gestrigen Vormittag
in ziemlich beträchtlicher Zahl dieserhalb vor dem Rathause demon-
strierten, hatte (was wir gestern schon andeuteten) die Stadtverwaltung
die Arbeitgeber der Stadtgemeinde Wald auf gestern Nachmittag zu
einer Besprechung eingeladen, um mit ihnen Mittel und Wege zu
erörtern, die zu einer Linderung der Notlage der Bedürftigen, insbe-
sondere der Erwerbslosen, beitragen könnten. Beigeordneter [Schneider]
eröffnete die Besprechung, dankte den verhältnismäßig zahlreich
erschienenen Arbeitgebern für ihr Erscheinen und legte die Gründe
für die Zusammenkunft dar. Er wies besonders darauf hin, daß es
der Stadtverwaltung fürderhin nicht mehr möglich sein werde, über
die vom Reich festgesetzten Unterstützungssätze hinaus an die Erwerbs-
losen Zahlungen zu leisten. Auch der Einkauf von Lebensmitteln und
deren verbilligte Ausgabe an die Bedürftigen sei dadurch in Frage
gestellt, da die Stadt über Devisen (denn nur mit Devisen können noch
Lebensmitteleinkäufe im Großen getätigt werden) nicht verfüge. Ver-
treter der Erwerbslosen schilderten die Notlage weiter Kreise der
Unterstützungsempfänger, insbesondere der Erwerbslosen und [stellten]
die Forderung auf Zahlung eines weiteren Barbetrages [noch] im
Laufe dieser Woche. In der Aussprache wies Herr Franzen darauf
hin, daß die zusammengelegten Betriebsmittel aller Walder Arbeit-
geber kaum ausreichen würden, die Walder Unterstützungsempfänger
auch nur einige Tage zu ernähren. Die Wiederaufnahme der Arbeit
in den Betrieben sei in vielen Fällen außerordentlich schwierig, sie
würde teilweise noch durch die Weigerung der Arbeiter, die Arbeit
wieder aufzunehmen oder fortzusetzen, in Frage gestellt, was wohl
mit auf die im Verhältnis zu den Löhnen recht hohen Unterstützungen
in einigen Gemeinden des oberen Kreises Solingen zurückzuführen sei.
Herr Lauterjung bestätigte die Ausführungen seines Vorredners.
Er glaubte indes, daß die Industrie in der Lage sein werde, der Stadt
bei Erlangung von Reichsbankkrediten für die Lebensmittelbeschaffung
behilflich zu sein, durch Girierung der Wechsel, wie es bisher schon
in einigen Fällen geschehen sei. Beigeordneter Schneider wies dem-
gegenüber erneut darauf hin, daß Papiermarktkredite unter den heutigen
Verhältnissen den Einkauf von Lebensmitteln nicht mehr ermöglichen.
Herr Krusius regte daraufhin an, die Stadtverwaltung möge der
Industrie einen Plan vorlegen, welche Goldmark-Kredite sie zur
Sicherstellung der Ernährung der Bevölkerung benötige. Er glaube,
die Industrie würde in der Lage sein, der Stadt einen Goldmark-
kredit gegen Wechsel mit 3 monatiger Lauffrist zu verschaffen. Die
Verwaltung sagte zu, den Vorschlag der Industrie zu prüfen und die
Ausstellung eines Bedarfsplanes sofort in die Hand zu nehmen. Herr
Meis, als Vertreter des Kleinhandels sagt zu, daß der organisierte
Kleinhandel bei der Verteilung der von der Stadt abzugebenden Le-
bensmittel mitwirken würde. Bei Beschaffung der Lebensmittel em-
pfehle er, sich der Einkaufsgenossenschaft des Lebensmittelhandels zu
bedienen. Bei der Ausstellung des Bedarfsplanes solle ein Vertreter
des Kleinhandels und ein Vertreter der Industrie mitwirken. Von
den Vertretern der Erwerbslosen wurde am Schlusse der Verhand-
lung erneut darauf hingewiesen, daß mit Rücksicht auf die augenblick-
liche Notlage der Unterstützten die sofortige Bereitstellung einer Bar-
zahlung notwendig sei, um Plünderungen und sonstige Unruhen zu
vermeiden. Die durch die Kredithilfe der Industrie vielleicht ermög-
lichte Lebensmittelversorgung würde erst in einigen Tagen wirksam
werden, bis dahin müsse den Erwerbslosen durch Bargaben geholfen
werden. Sie richteten an die Industrie das Ersuchen, der Stadtver-
waltung die Mittel für die Auszahlung der geforderten Summen
(15 Billionen zuzüglich 2 Billionen für jedes Kind) zur Verfügung
zu stellen. Beigeordneter Schneider erklärte, daß es der Verwaltung
völlig unmöglich sei, im Augenblick eine Barzahlung in Aussicht zu
stellen, da der Bürgermeister wegen der Ueberzahlung im Anfang
der Woche augenblicklich von der Regierung zur Verantwortung
gezogen worden sei und das Ergebnis dieser Verhandlung abgewartet
werden müsse. Er hege aber nicht die Hoffnung, daß das Resultat
eine weitere Barzahlung in dieser Woche ermöglichen würde.
Ob die Industrie der Verwaltung die Mittel für eine Zahlung zur
Verfügung stellen wolle und könne, würde von ihm bezweifelt. Tat-
sächlich verhielt sich die Industrie in dieser Beziehung durch Still-
schweigen ablehnend, worauf Beigeordneter Schneider die Verhandlung
schloß. Die im Gewerkschaftshaus versammelten Erwerbslosen veran-
laßten, nachdem ihnen über das Ergebnis der Verhandlung Bericht
erstattet wurde, erneut einen Teil der Arbeitgeber zu einer Sitzung im
Rathause zusammenzutreten, in der wieder an die Industriellen das
Verlangen gestellt wurde, die Auszahlung eines weiteren Barbetrages
an die Erwerbslosen noch in dieser Woche zu finanzieren. Mit Rücksicht
darauf, daß die erforderliche Summe wohl kaum überhaupt, geschweige
denn in der geforderten Zeit, von der Industrie aufgebracht werden
kann, auch nur ein kleiner Teil der Walder Betriebsinhaber an dieser
2. Verhandlung teilnahm, konnte die Besprechung das von den Erwerbs-
losen gewünschte Ergebnis nicht zeitigen[.] Bürgermeister Seynsche
erklärte als Leiter der zweiten Verhandlung mit den Industriellen[,]
daß er, da er ein ersprießliches Ergebnis der Verhandlung, deren
Teilnehmer teilweise unter einem Drucke zu den Verhandlungen er-
schienen seien, nicht erhoffen könne und das [sic!] er deswegen diese schließen
müsse. Er bat die Industriellen dringend, unter sich sofort zusammen-
zutreten und das Ergebnis der Beratungen baldmöglichst mitzuteilen.“
       Wie uns weiter von der Verwaltung mitgeteilt wird, sind mit
Rücksicht auf die von der Stadtverwaltung zu Anfang der Woche an
die Erwerbslosen geleisteten ungesetzlichen Zahlungen von der Regie-
rung sämtliche Reichs- und Staatszuschüsse bis auf weiteres gesperrt
worden. Die Ausgabe weiteren Notgeldes bleibt nach wie vor ver-
boten, sodaß jede Möglichkeit fehlt, die Forderung der Erwerbslosen
auf Leistung einer weiteren Barzahlung im Laufe dieser Woche zu
erfüllen.
                                                    *
       Leider ist der gestrige Tag nicht ohne Zwischenfälle verlaufen.
Mehrere Trupps von Erwerbslosen versuchten, z[um] T[eil] unter Aus-
schreitungen, eine Anzahl Fabrikanten mit Gewalt zur Teilnahme an
der zweiten Versammlung zu bewegen. Dabei haben sich die Erwerbs-
losen in einigen Fällen Tätlichkeiten zuschulden kommen lassen, sodaß
die Polizei und ein Schupokommando einschreiten mußten. Wie wir
uns von der Verwaltung sagen lassen, ist es dabei zu schweren Zu-
sammenstößen nicht gekommen, obwohl hier und da Gewalt angewandt
werden mußte. In den späten Abendstunden war die Ordnung im
Allgemeinen wieder hergestellt.

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