Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 16. November 1923
Die Lage der Eisen- und Stahlwarenindustrie im besetzten Gebiet „nimmt allmählich den Grad der Unerträglichkeit an“: „Das deutsche Geschäft in der Solinger Schneidwarenindustrie ruht vollständig, und das Exportgeschäft ist kaum der Rede wert.“
Wirtschaftlicher Teil.
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Die Eisen- und Stahlwarenindustrie
im Monat Oktober.
* Nach Mitteilung des Eisen- und Stahlwaren-Industrie-
bundes in Elberfeld wird über die Lage der Eisen- und Stahl-
warenindustrie im Monat Oktober aus den einzelnen Bezirken
wie folgt berichtet:
Hagener Bezirk. Die Lage der Eisenfertigwarenindustrie im
Märkischen Bezirke ist nach wie vor trostlos. Mit Einstellung
des passiven Widerstandes und damit der Auszahlung von
Lohnsicherungsbeträgen für völlig oder teilweise Erwerbslose
und die Uebernahme der Fürsorge auf die Erwerbslosenunter-
stützung ist von zahlreichen stilliegenden Werken der Versuch
auf Wiederaufnahme der Arbeit gemacht worden. Diese Ver-
suche sind aber fast restlos fehlgeschlagen, und zwar hauptsäch-
lich an der Unmöglichkeit, Kredite zu erhalten. Dazu kommt
die Schwierigkeit, Aufträge zu erhalten. Im Ausland ist dies
so gut wie unmöglich, da die Auslandspreise niedriger liegen als
die Inlandpreise. Wenn dieses Verhältnis sich nicht umkehrt,
was aber nur durch Inbetriebnahme der jetzt stilliegenden ma-
terialliefernden deutschen Zechen und Hüttenwerke und durch
vermehrte Intensität und Arbeitszeit in den Fertigbetrieben mög-
lich werden kann, wird mindestens die Hälfte der Märkischen
Eisenfertigwaren-Industrie zur ständigen Arbeitseinstellung ver-
dammt sein. Im Inland hält der Verbrauch außerordentlich zu-
rück. Die Landwirtschaft kauft für Papiermark überhaupt nicht.
Der Handel, der sich ursprünglich zu Goldmark bei Berechnung
über Dollar und Pfund eingedeckt hat, tritt überall mit Annullie-
rungen auf, da man die Papiermarkbeträge bei dem vollstän-
digen Abschwimmen der Papiermark einfach nicht zusammen
bringen kann. Die Industrie selbst kommt bei ihrer eigenen
schlimmen Lage als Abnehmer nur wenig in Frage. Die kata-
strophale Wertverminderung der Papiermark zu einer Zeit, in
der noch nicht genügend wertbeständige Zahlungsmittel im
Umlauf sind, haben zur Folge, daß weite Kreise der Bevölkerung
den notwendigsten Lebensbedarf tatsächlich nicht erstehen kön-
nen. Wenn es nicht gelingt, in aller Kürze wertbeständige Mittel
zu schaffen, die an die Stelle der fast ganz entwerteten Papier-
mark treten, so wird die Gefahr zunehmender Beunruhigung
der Bevölkerung immer größer. Zudem steht das Industrie-
leben stark unter dem Druck der außen- und innenpolitischen
Unsicherheit. Die Spannung, in der sich unter diesem Druck
die Industrie befindet, nimmt allmählich den Grad der Unerträg-
lichkeit an. Wie sich die Verhältnisse in der nächsten Zeit
gestalten werden, erscheint fast unabsehbar.
Velberter Bezirk. Die Lage der Schloßindustrie hat sich im
Monat Oktober gegenüber der im Vormonat September fast
nicht geändert. Die Betriebe ruhen nach wie vor zum großen
Teile oder arbeiten verkürzt. Das gleiche gilt auch für die
Schloßindustrie im unbesetzten Deutschland.
Die Lage in der Solinger Schneidwarenindustrie hat sich im
Monat Oktober weiter verschlechtert, da weder eine Beseiti-
gung der Verkehrsschwierigkeiten noch eine Verbilligung der
Rohstoffe und Halbfabrikate eingetreten ist. Die Preisbildung
ist immer noch auf derartig unsicheren Unterlagen aufgebaut,
daß sie auch jetzt noch als annormal bezeichnet werden muß.
Das deutsche Geschäft in der Solinger Schneidwarenindustrie
ruht vollständig, und das Exportgeschäft ist kaum der Rede
wert. Die Erwerbslosenziffern sind gegenüber dem Vormonat
weiter stark gestiegen und reichen fast an die Zahl der Arbeiter
im ganzen oberen Kreise Solingen heran. Es scheint, als ob
der Höhepunkt der schwierigen Lage der Industrie im besetzten
Gebiet noch nicht gekommen ist. Es ergeht nach wie vor die
dringende Bitte an alle Teile der Wirtschaft des unbesetzten
Deutschland, der besonders schwierigen Lage im besetzten
Rheinland und Westfalen in jeder Beziehung (auch politisch)
Rechnung zu tragen.
Schmalkalder Bezirk. Mit Mühe und teilweise nicht unbe-
deutenden Opfern hat sich im verflossenen Monat in der Mehr-
zahl der Betriebe die Beschäftigungszeit so aufrecht erhalten
lassen, wie sie im September war, d. h. es wurde größtenteils
verkürzt gearbeitet. Es werden zum Teil Auslandsaufträge zu
Preisen hereingenommen, die unter den Inlandspreisen liegen,
nur um die Betriebe im Gang zu halten. Das Rohmaterial, Eisen,
Stahl, Kohle, muß vielfach aus dem Ausland bezogen werden
(Tschecho-Slowakei, England, Schweden). Die Löhne sind na-
turgemäß zu riesiger Höhe gestiegen, sodaß auch die Verkaufs-
preise fortwährend heraufgesetzt werden müssen. Glücklicher-
weise ist der hiesige Bezirk bisher von Arbeiterunruhen ver-
schont geblieben; der gesunde Sinn sagt wohl den Arbeitern,
daß sie mit Gewalttätigkeiten ihre Lage doch nur verschlimmern
würden. Inwieweit die Beschäftigung im bisherigen Maße noch
aufrecht zu erhalten ist, kann nur schwer gesagt werden; der
wahnsinnige Verfall unserer Währung in den letzten Tagen
läßt Schlimmes befürchten.
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Stadtarchiv Solingen: RK (16. November 2023). 16. November 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 25. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/afdx