Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 25. Oktober 1923

Wirtschaftliche Not: Schuldzuweisung an die Arbeiterfrauen, die die „bürgerliche Presse“ in die Haushalte bringen und im Kampf für eine bessere Lage eine zu „passive Haltung“ einnehmen. Der Ausweg aus der Not sei in der Arbeiterpresse und in der „Einheitsfront des Proletariats“ zu finden.

                     Ein Brot über 10 Milliarden!
Proleten, wollt ihr noch nicht kämpfen? Worauf wartet ihr noch?
                        Goldmark-Einkommen.
       Diese Parole schwirrt jetzt durch die Reihen der Arbeiter und
Angestellten, ohne daß bisher etwas geschehen wäre, dieses Problem
des Goldmarkeinkommens der Lösung näher zu bringen. Im be-
nachbarten Köln sollen nach Aussagen eines Mitgliedes der Tarif-
kommission die Gewerkschaften die Forderung aufgestellt haben:
Friedenslohn plus 50 Prozent und Multiplikator. Auch das So-
linger „Volksblatt“ erblickt alles Heil in Goldmarklöhnen und
-gehältern. Unserer Auffassung nach ist aber auch diese Forderung
nicht geeignet, uns aus der Misere herauszubringen. Ein Blick
in die Schaufenster wird dies sofort bestätigen. Da sieht man die
Ware mit Pfennigen ausgezeichnet, aber nicht nach dem Friedens-
stand oder 50 Prozent höher, sondern mit 200 bis 300 Prozent und
noch höher. Aber selbst dann, wenn man uns Friedenslohn mit
100 Prozent und noch mehr zahlen würde, bedürfte es unbedingt
einer einmaligen größeren Summe, welche als Ausgleich zu zahlen
wäre, weil wir noch niemals so heruntergewirtschaftet waren in
Haushaltung und sonstigen Bedürfnissen wie augenblicklich. Mehr
wie nackt lausen, Schlimmeres wie Hunger und Kälte in diesem
nackten Zustand ertragen, kann es für uns Proleten nicht geben.
„Keine Bettwäsche habe ich mehr, nichts mehr den Kindern um- und
anzuziehen, kein Geld für Kartoffeln und Briketts, um mittags
etwas auf den Tisch setzen zu können“ usw. hört man jetzt aus jedem
Hausfrauenmunde, auch von solchen, welche sich bisher noch einiger-
maßen helfen konnten.
       Euch Frauen sei gesagt, daß ein großes Teil Schuld euch selbst
trifft. Eure passive Haltung, aus der wir euch immer wieder her-
auszuholen versuchten, rächt sich jetzt naturnotwendig an euch
selber. Bisher habt ihr den Kapitalisten noch immer ein bißschen
Menschlichkeit zugetraut, trotz unserer Aufklärung. Ihr Frauen
seid es zumeist, die darauf bestehen, daß eine bürgerliche Zeitung
in eurem Haushalt gelesen wird. Ost genug haben wir euch gesagt,
daß gerade diese Zeitungen die gefährlichste Waffe der Kapitalisten
gegen uns Arbeiter ist. Hoffentlich seid ihr jetzt kuriert und werft
dieses geistige Giftreptil aus eurer Wohnung heraus und schärft
dadurch eure eigene Waffe, daß ihr eine Arbeiterzeitung bezieht.
Diejenigen, welche noch das Bedürfnis haben, die Kirche zu besuchen,
mögen dies ruhig tun. Sie müssen aber dann auch von ihren Geist-
lichen verlangen, daß diese ihnen die Lehren des Nazareners in un-
verfälschter Form predigen und den sündigen Kapitalisten auf die
Bude rücken. Es ist gerade genug verlangt worden, demütig, be-
scheiden und mäßig zu sein. Der Mensch braucht auch Nahrung,
Kleidung und Wohnung. Dieses gibt man den Lohn- und Gehalts-
empfängern heute trotz ihrer Arbeit nicht in auch nur annähernd
genügendem Maße. Bei den heutigen Löhnen ist es selbst voll-
beschäftigten Arbeitern nicht mehr möglich, leben zu können.
       Wo bleiben die Erwerbslosen und Kurzarbeiter? Wovon sollen
diese eigentlich existieren? Manna fällt nicht mehr vom Himmel.
Die Regierung wirft einen Bettelbrocken hin. Die Gemeinden
sind längst am Ende ihres Lateins. Sie haben keine
Mittel mehr. Wo kann nun noch Hilfe herkommen? Der Kapitalist
mitsamt der Regierung und den Schleppenträgern der Kapitalisten
brüllen im Chorus: Ihr müßt länger und mehr schuften, dann wird
eure Lage besser werden. Dabei erklären diese aber gleichzeitig: Ihr
müßt 10 und mehr Stunden arbeiten für denselben Lohn wie für
acht Stunden. Dieses wagt diese Gesellschaft uns zu sagen in dem
Augenblick, wo sie die Mehrzahl der Arbeiterschaft auf die Straße
wirft und wo sie in gewisser Reihenfolge die Betriebe schließt.
       Wir dürfen uns als Lohn- und Gehaltsempfänger den Luxus
nicht mehr erlauben, hier tatenlos zuzusehen. Einen großen Fehler
begehen diejenigen, welche durch die Not gezwungen, oder auch aus
Verärgerung, weil nichts geschieht, ihre Verbandsbücher in die Ecke
werfen oder die Arbeiterpresse abbestellen. Ihnen muß gesagt werden,
daß die Einheitsfront des Proletariats nie so notwendig war wie
gerade jetzt. Alles muß sich einreihen in die Kampffront, Mann
und Frau, Jüngling und Jungfrau, weil es ums Ganze geht.
       Doch auch die Goldmarkeinkommen werden an der ganzen
Sache nichts ändern. Denn muß der Kohlenbaron den Berg-
arbeitern Goldmarklöhne bezahlen, schlägt er diese wieder auf die
Kohlen und die Folge davon ist, daß alles, was von der Kohle ab-
hängt, ebenfalls verteuert wird und der Konsument wieder da an-
langt, wo er jetzt steht. Der Unternehmer verzichtet nicht auf den
Profit und läßt sich von keiner Regierung dazu zwingen. Man
gesteht aber den Arbeitern gar nicht das Recht auf das Goldmark-
einkommen zu. Im Kölner „Stadtanzeiger“ vom Mittwoch, den
17. Oktober bemüht man sich, das Für und Wider der Goldmark-
preise und der Stichzahl des Kölner Kleinhandels zu verstehen.
Beinahe eine ganze Seite wird dazu gebraucht. Es heißt da u. a.
„Die Goldmarkpreise, die jetzt vom Verbraucher verlangt werden
haben notwendigerweise zur Voraussetzung Goldmarkeinkommen,
d. h. wertbeständige Einkommen. Das eine kann nicht ohne das
andere sein. Das hat sich kürzlich gezeigt, als der Einzelhandel
mit dem Multiplikator 1 800 000 000 Mark rechnete, die Löhne aber
weltenweit von dieser Höhe entfernt waren (und noch sind). Die
Lohn- und Gehaltsempfänger dürfen nun freilich nicht damit rech-
nen, Goldmarkgehälter und -löhne in Friedenshöhe zu erhalten.
Die Einkommen werden sich sehr weit unter diesen Beträgen halten
müssen, denn wir haben den Krieg verloren.“ Im weiteren Verlauf
des Artikels glaubt der Schreiber des „Stadtanzeiger“, daß wir auch
deshalb keine Goldmarklöhne verlangen können, weil wir weniger
arbeiten. Diese Bequemlichkeit müßten wir uns etwas kosten lassen.
      So etwas muß eine Arbeiterfamilie lesen, welche so rückständig
ist, eine bürgerliche Zeitung zu lesen. Sie wird verhöhnt und ver-
spottet, denn anders kann man obiges nicht nennen. Wir haben den
Krieg verloren und müssen deshalb als Arbeiter verhungern. Kein
Wort darüber, daß auch der deutsche Kapitalist, der Bourgeois, den
Krieg verloren hat!
       So, wie wir es immer behaupten, daß die ganzen Lasten die
Arbeiter zu tragen haben, daß sie ihm allein aufgebürdet werden,
so hält es der „Stadtanzeiger“, ja die gesamte bürgerliche Presse, für
richtig. Darum auch unser Kampf gegen diese Presse. Zu dem
Kampfe brauchen wir ebenfalls alle Hand- und Kopfarbeiter, alle
Männer und Frauen des schaffenden Standes. Auch hier die Ein-
heitsfront!