Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 13. November 1923

Demonstration von Arbeitslosen in Gräfrath: Verhandlung zwischen Vertretern der Stadtverwaltung und der Industrie, um die Not der Hilfsbedürftigen zu lindern. Ein „Trupp Erwerbsloser“ will einen Fabrikanten gewaltsam zur Teilnahme an der Verhandlung zwingen und wird durch Polizeieinsatz gestoppt.

                          Aus dem Landkreise Solingen.
       Gräfrath, 13. Nov[ember]. Oeffnung der Betriebe? Eine große
Kundgebung veranstalteten am Sonntag vormittag die Erwerbs-
losen. Sie begaben sich vor das Rathaus und verlangten eine
gemeinsame Besprechung mit den Vertretern der Verwaltung
und der Industrie über die Frage, wie die Not der erwerbslosen
Bevölkerung gelindert werden könne. Sowohl die Verwaltung
wie die Vertreter der Industrie gaben zu, daß es unmöglich sei,
mit den Unterstützungssätzen, die das Reich für die besetzten Ge-
biete vorschreibe, auszukommen, und daß darüber hinaus etwas
getan werden müsse. Das Reich lasse die Gemeinden des besetzten
Gebietes in dieser Frage vollständig im Stich. In der Besprechung,
die am Nachmittag bei Tack am Zentral stattfand, wurde man
einig, daß man vor allen Dingen ausreichend Lebensmittel be-
schaffen müsse. Die dafür notwendigen Mittel, die die Stadt
aufbringen muß, sollen durch die Industrie durch Aufnahme von
Wechselkrediten gesichert werden. Die Abgabe von verbilligten
Lebensmitteln soll auch in Zukunft weiter bestehen bleiben. Des-
weiteren unterhielt man sich auf Verlangen der Erwerbslosen
über die Frage einer weitergehenden Oeffnung der Betriebe.
Fabrikant Hillers, der als Vertreter der Industrie an der
Besprechung teilnahm, betonte, daß eine solche Aktion nur dann
möglich sei, wenn die Industriellen vom Reich Kredite erhalten,
die es ihnen ermöglichten, auf Lager arbeiten zu lassen. Lei-
der wurden die Besprechungen dadurch gestört, daß ein größerer
Trupp Erwerbsloser einen Fabrikanten von Foche mit Gewalt
zur Teilnahme an den Verhandlungen zu zwingen versuchten, so-
daß die Polizei einschreiten mußte, während ein zugezogenes
Kommando britischer Truppen nicht in Tätigkeit zu treten
brauchte. Nachdem die Ordnung wieder hergestellt war, hat sich
der Fabrikant auch tatsächlich zum Verhandlungslokal begeben
und es ist dann zu weiteren Zwischenfällen nicht mehr gekommen.
Am heutigen Mittag erfolgte, wie uns kurz vor Redaktionsschluß
gemeldet wird, eine neue Kundgebung, über die wir jedoch näheres
noch nicht in Erfahrung bringen konnten. Es muß immer be-
tont werden, daß es ganz zwecklos ist, mit Gewalt etwas zu
unternehmen. Vor allen Dingen ist die Frage der Arbeitsbe-
schaffung durch die Industrie eine sehr schwierige, da ihre Lösung
nicht allein von dem guten Willen der Unternehmer abhängt
sondern im wesentlichen eine Gold- und Kreditfrage ist. Auf
der anderen Seite sind wir aber auch der Meinung, daß die
Gemeinden die Erwerbslosenfürsorgelder [sic!] doch z[um] T[eil] etwas pro-
duktiver anlegen könnten als es geschieht. Wir erinnern daran,
daß die Notstandsarbeiten, mit denen bis vor einigen Wochen
immerhin eine ganze Anzahl Erwerbsloser beschäftigt war, heute
sozusagen ganz aufgehört haben.

Wenn Sie sich die vollständige Ausgabe des Solinger Tageblatts ansehen möchten, klicken Sie auf den Link: Solinger Tageblatt vom 13. November 1923