17. Oktober 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 17. Oktober 1923

Unruhen in Ohligs: Die Bergische Arbeiterstimme fordert die Arbeiter auf, trotz der Notlage besonnen zu handeln, sich der kommunistischen „Partei anzuschließen, und keine unsinnigen Handlungen zu begehen“, um gemeinsam eine „bessere Wirtschaftsform“ zu erkämpfen.

               Ein Rückblick auf die Hungerkrawalle
                                  in Ohligs.
       Nachdem nun seit einigen Tagen das alte Straßenbild wieder
hergestellt ist, mit Ausnahme der Schupo, die es sich anscheinend
in den Mauern unserer Stadt noch etwas gemütlich machen will,
gilt es, einmal kurz einen Ueberblick über die Ursachen- und Aus-
wirkungen dieser Vorgänge zu machen.
       Als am vergangenen Donnerstag selbst den kühnsten Optimisten
das plötzliche Emporschnellen des Dollars aus dem Gleichgewicht
brachte, gelangten auch jene zu der Einsicht, daß es so nicht mehr
weiter gehen kann. Die Zersetzung der heutigen kapitalistischen Ge-
sellschaft geht Schritt für Schritt mit der steigenden Preisgestaltung.
Trotzdem sehen wir, wie die bisherige Politik krampfhaft weiter
getrieben wird, unbekümmert darum, ob Millionen von Menschen
elend verrecken. Wie eine Bombe wirkte nun plötzlich die Maß-
nahme der Regierung insofern, daß sie plötzlich den Zeiger der
Zeit mit Gewalt zurückdrehen wollte. Der Zündstoff, der sich in
Mengen angesammelt hatte in der Form ungehaltener Versprechun-
gen, gelangte nun am Donnerstag auch hier zur Entzündung.
Wochenlange Arbeitslosigkeit, die bisher ungeheueres Elend ge-
bracht hatte, bildete nun den Auftakt zu den Vorgängen, die jeder
vernünftig denkende Mensch verurteilen muß und doch auch wieder
verstehen kann. Diese Gelegenheiten sind den lichtscheuen Ele-
menten stets willkommen, und gar mancher arme Teufel kommt da-
bei mit „unter die Räder“. Wir ermahnen deshalb stets wieder:
Jeder Organisierte hat sich hinter seine Partei zu stellen und durch
deren Hilfe für eine bessere Wirtschaftsform zu kämpfen, die es nicht
zuläßt, daß Tausende verhungern, während andere im Ueberfluß
schwelgen. Doch das, was wir jetzt sehen, hat man absichtlich herbei-
geführt, um die Organisation, die diesen Kampf ernstlich führt zu be-
seitigen. Aus den Blättern der bürgerlichen Gesellschaft geht klar
hervor, daß man es gewünscht hätte, wenn man diese Vorgänge
unserer Partei an die Rockschöße hätte hängen können. Da es ihnen
nicht möglich ist, weil auch wir diesem Treiben tatkräftig entgegen-
getreten sind, versucht man einzelne Personen zu denunzieren.
Leute solchen Charakters verdienen, der Verachtung preisgegeben
zu werden, da der Dreck dieser Menschen unsere Stiefelsohlen nie er-
reichen wird.
       Wer nun Gelegenheit hat, die Warenvorräte zu betrachten, die
der Spekulation der Schieber und Wucherer zur Verfügung stehen,
der wird ohne weiteres zu der Einsicht gelangen, daß die Provo-
kateure in diesen Leuten zu suchen sind, die auch heute, dank der „gott-
gewollten“ Gesellschaft gestützt und geschützt werden. So hatte z. B.
der Wirt Cohnen von Aufderhöhe ein Lager von Eiern, Würsten und
Speck aufzuweisen, wovon fast eine Stadt wie Ohligs für mehrere
Tage versorgt werden kann. Die Erbitterung gegen diesen Mann ist
zu verstehen, wenn man hören muß, daß er bei den hungernden
Massen damit renommiert, aber nicht bereit ist, Waren abzugeben,
wo keine in den Geschäften zu haben sind. Solchen Menschen müßte
durch Verbot jeglicher Handel mit Lehensmitteln untersagt werden.
Solange dies nicht durchgesetzt wird, werden sich derartige Vorfälle
leicht wieder ereignen können, denn auch mit Gummiknüppeln und
Säbeln lassen sich hungerige Magen nicht füllen.
Die Arbeiterschaft ersuchen wir heute mehr denn je, sich unserer
Partei anzuschließen, und keine unsinnigen Handlungen zu begehen.
Das gleiche fordern wir auch von der Gegenseite. Vor allem sollte
dieses Warnungszeichen auch für die Schupo gelten, deren Leute nicht
immer so handelten, wie es der Kommissar derselben in der Ver-
sammlung am vergangenen Freitag versprochen hat.
       Nachdem festgestellt ist, daß für einige Zeit genügende Lebens-
mittel vorhanden sind, vorausgesetzt, daß keine Verschiebung der-
selben zwischen Nacht und Nebel – wie bei Cohnen – stattfindet,
liegt keine Veranlassung vor, die Ohligser Bürgerschaft dem Hunger-
elend preiszugeben. Möge die Verwaltung danach handeln – so-
tort, ohne nach oben oder nach rechts zu schielen.


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Stadtarchiv Solingen: RK (17. Oktober 2023). 17. Oktober 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 16. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/afbj


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.