23. Oktober 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 23. Oktober1923

Der Höhscheider Bürgermeister Hugo Pohlig schildert die Not der Heimarbeiter.

                         Aus Stadt und Umgegend.
                                                                      Solingen, 23. Oktober.
        Zu den Schwierigkeiten in der Solinger Heimindustrie
von denen in den letzten Wochen wiederholt die Rede gewesen ist,
nimmt jetzt Bürgermeister Pohlig von Höhscheid Stellung, indem
er uns bittet, seine folgenden Aeußerungen und Anregungen zu
veröffentlichen:
     „Am 20. d[iesen] M[ona]ts wurde eine Abordnung der Heimarbeiter
wegen der hohen Strompreise des Rheinisch-Westfälischen Elektri-
zitätswerkes bei mir vorstellig und erklärte daß die Heimindustrie
nicht mehr in der Lage sei, die hohen Strompreise zu bezahlen.
Dadurch, daß der Strompreisberechnung der am Zählerablesungs-
tage geltende Kohlenpreis zugrunde gelegt wird, hätten Strom-
abnehmer, die im September 2 Milliarden verdienten, etwa 20
Milliarden für den Strom zu bezahlen. Gegenwärtig werde ihr
Verdienst durch die Strompreise bei weitem überschritten, was
darauf zurückzuführen sei, daß einerseits die Löhne der Heimarbei-
ter seit der zweiten Oktoberwoche nicht mehr der Marktentwertung
entsprechend aufgebessert worden seien und sie andererseits auch
das Entwertungsrisiko zu tragen hätten, indem am Zahltage die
Geldentwertung derart fortgeschritten sei, daß die neuen Teu-
erungszuschläge hierdurch illusorisch geworden seien. Unter die-
sen Umständen sähen sie sich, wenn nicht die Beträge für Sep-
tember und die erste Oktoberhälfte vorläufig gestundet würden,
zur Schließung der Betriebe veranlaßt. Ich habe Verhandlun-
gen mit dem Rheinisch-Westfälischen Werk veranlaßt, die nach
Rückkehr des zurzeit verreisten Direktor Peters, voraussichtlich
Ende dieser oder Anfang nächster Woche stattfinden werden.
   Bei der Besprechung mit der Abordnung mußte ich weiter
feststellen, daß die Löhne der Heimarbeiter in keinem Verhältnis
mehr zu den Aufwendungen für Material, Strom usw. stehen
und angesichts der Teuerung nicht einmal mehr zum Lebens-
unterhalt reichen. Es muss dahingestellt bleiben, ob es heute mög-
lich ist, die Löhne der Heimarbeiter so zu gestalten, daß sie den
Friedenslöhnen entsprechen. Jedenfalls aber muß ein Weg ge-
funden werden, daß die Existenzmöglichkeit der Heimarbeiter ge-
sichert ist und sie möglichst vor den Folgen der Geldentwertung
geschützt werden. Es geht nicht an, daß nur dem Handel das
Recht zusteht, sich auf die Goldbasis zu flüchten und täglich einen
Multiplikator festzusetzen, während die Arbeiterschaft gar keine
Möglichkeit hat, sich diesen Verhältnissen anzupassen. Daher ist
zu erwägen, ob zwischen den Arbeitgeber- und Arbeitnehmeror-
ganisationen ein Abkommen dahingehend getroffen werden kann,
daß die jetzige Lohnbasis täglich der Entwertung angepaßt und
ferner den Arbeitern Gelegenheit gegeben wird, den Teil des
Lohnes, den sie nicht sofort zum Lebensunterhalt benötigen, wert-
beständig anzulegen. Die Heimarbeiter werden dann auch wieder
in die Lage versetzt werden, die Gelder für Strom, Materialien
usw. zur gegebenen Zeit zur Verfügung zu haben. Unter den
augenblicklichen Verhältnissen stehen leider für die wertbeständige
Anlage keinerlei Beträge weder den städtischen Sparkassen noch
den Banken zur Verfügung; auch ist es den Zeitungsnachrichten
zufolge zweifelhaft, ob die Rentenmark und Goldmark des Reichs
überhaupt von den Alliierten im besetzten Gebiet zugelassen wird.
Da muß es aber nach meinem Dafürhalten Aufgabe der Arbeit-
geberschaft sein, hier eine [sic!] geeigneten Weg zur wertbeständigen
Anlage der Gelder zu finden. Dem Vernehmen nach ist von
verschiedenen Firmen – Farbenfabriken in Leverkusen, Friedr[ich]
Herder Abr[aham] Sohn in Solingen – diese Frage schon gelöst worden,
sodaß auch andere Firmen, namentlich des Solinger Industrie-
bezirks, im Interesse der Erhaltung der Heimindustrie dazu über-
gehen müssen. Eine Besprechung dieser Angelegenheit soll am
Schlusse der Stadtverordnetensitzung am Donnerstag dieser Woche
erfolgen.“
                                       *       *       *

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Stadtarchiv Solingen: RK (23. Oktober 2023). 23. Oktober 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 23. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/af8w


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