29. April 1923

Quelle: Stadtarchiv Troisdorf, Pressesammlung: Siegburger Kreisblatt vom 29. April 1923

Die Franzosen haben Probleme, die Eisenbahnen im besetzten Ruhrgebiet am Laufen zu halten.

Wie stehts an der Ruhr?

   er.   Berlin, 27. April. Man schreibt uns
aus dem unbesetzten Gebiet an der Ruhr. Woher
nahm nur Poincare den Mut seiner letzten Rede?
Wie kam der französische Minister der öffentlichen
Arbeiten, Le Trocquer, zu dem Jubelruf: „Die
Partie an der Ruhr ist gewonnen“? Was hat die
Pariser Presse davon, daß sie die englischen
Vermittlungsbemühungen im Gouvernantenton
abkanzelt? Für dieses ganze französische Spiel
gibt es nur eine Erklärung: Frankreich will
das deutsche Angebot in Siegerpose entgegen-
nehmen. Niemand soll merken, daß es inner-
lich der Entscheidung durch Verhandlungen ent-
gegenzittert! Denn anscheinend ist es am Ende
seiner politischen Kraft und seines diplomatischen
Könnens. In der deutschen Bevölkerung des
Ruhrgebietes wird jetzt die bisher von den Fran-
zosen ängstlich geheim gehaltene Tatsache bekannt
daß am 5. Mai die Verträge mit den franzö-
sischen Eisenbahnern ablaufen und daß immer noch
keine Aussicht auf Verlängerung des Tarifs be-
steht. Diese Eisenbahner sind, soweit sie Arbei-
ter oder Handwerker sind, in einem Transport-
arbeiterverband organisiert, ganz wie in Deutsch-
land, und diese Verbände verstehen, wie man
weiß, keinen Spaß. Die französischen Arbeiter


verlangen, daß man ihnen entweder die Möglich-
keit eröffnet, Frau und Kinder auf deutschen
Boden zu bringen, oder daß man ihnen eine au-
ßerordentliche Zulage gewährt. Darüber geht
noch der Streit. Aber dies ist nicht die einzige
Sorge der französischen Verwaltung. Alle neu-
tralen Beobachter sind entsetzt über den Zustand,
in dem sich die militarisierten Strecken an Rhein
und Ruhr befinden. Die Franzosen haben hier
etwas unternommen, was sich bereits an ihnen
selbst rächt. Die wenigen Züge, die noch fahren,
wirtschaften das Material gänzlich herunter. Die
Reparaturen können von den paar Mechanikern
nicht besorgt werden. Die Maschinen sind schon
lange nicht mehr gründlich nachgesehen. Das franz.
Eisenbahnpersonal ist zu gering an Zahl und den
technischen Schwierigkeiten nicht gewachsen, dazu
maßlos überarbeitet, unzufrieden und gereizt. Da-
her die genannten außerordentlichen Forderungen.
Die französische Eisenbahnregie hat den Versuch
gemacht, sich an die deutschen Eisenbahner zu
wenden. In Mainz wurde eine Konferenz anbe-
raumt. Dabei gaben die Generale eine Erklärung
ab, in der es etwa heißt: Die jetzt für kurze Zeit
unterbrochenen Massenausweisungen gehen unter
allen Umständen bis zum letzten Eisenbahner wei-
ter, wenn diese auf ihrem ablehnenden Stand-
punkt verharren sollten. Die ausgewiesenen
Reichseisenbahner kämen nie wieder, gleichgültig
in welcher Form das Rhein-Eisenbahn-Netz be-
trieben werde. Falls wider Erwarten die fran-
zösische Sache nicht siegen sollte, hätten die zu
den Franzosen übergetretenen Eisenbahner nichts
zu befürchten, denn man würde sie im Notfall
in den französischen Dienst übernehmen. Die
französische Regierung brauche deutsche Eisen-
bahner nicht, denn sie könne Polen und Oester-
reicher genug haben. Und: Den Ausgewiesenen
gehe es im unbesetzten Gebiet sehr schlecht, es
drohe ihnen Entlassung durch die deutsche Reichs-
bahn. Auf solche Einschüchterungsversuche lassen
sich die deutschen Eisenbahner nicht ein. Die in
Mainz anwesenden Vertreter erklärten, zu keiner
Verhandlung ermächtigt und nicht gewillt zu sein,
ihren Diensteid zu brechen. Die Franzosen wollen
nun noch einmal mit bevollmächtigten Vertretern
verhandeln. Aber sie werden wieder ins Leere
greifen. Und wie mit den Arbeitern geht es mit
den Grubenarbeitern. Mit diesen
geht jetzt der Kampf um die Deputatkohle.
Bekanntlich hat der Bergarbeiter das Recht einen
Teil der geförderten Kohle als Naturalbezüge
für seinen Hausbedarf zu behalten. Das franzö-
sische Oberkommando will nun den Grubenar-
beitern dadurch beikommen, daß sie von ihnen
besondere Abholung der Deputatkohle mit einem
französischen Erlaubnisschein verlangt. Der Be-
triebsrätekongreß der Kohlen- und Eisenindustrie
des Ruhrgebiets, der am Mittwoch in Essen sei-
nen Anfang nahm, verbietet den Arbeitern sich
von den französischen Offizieren solche Erlaubnis-
scheine zu erbitten. Was auch sonst der Kongreß
der fast ganz von den Kommunisten beherrscht
wird im Ge[g]ensatz zu den Absichten der Berg-
arbeiterverbände beschließen wird, der Kampf um
die Deputatkohle gehört noch zum passiven Wi-
derstand und dieser wird nicht aufgegeben, bis
Frankreich von den Bahnen, Zechen und Zöllen
läßt. Es gibt keinen Waffenstillstand, bis zur
wirklichen Einigung.

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Stadtarchiv Troisdorf (29. April 2023). 29. April 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 16. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/af52


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