Quelle: Stadtarchiv Kleve, Clevischer Volksfreund 28.4.1923
Unter der Überschrift „Etwas“ erschienen in der Tageszeitung satirische Beiträge zu den Zeitumständen. Der Autor unter dem Namen „Friedericus“ hat seinen Freund Martinus Spießbürger zu Gast. Sie unterhalten sich beim sonntäglichen Mittagessen.
Etwas.
Cleve, 28. April.
Martinus und ich saßen zu Tisch. Während
man früher, vor dem Kriege, während des
Essens über irgend etwas anderes sprach –
es gibt auch welche, die während der Mahlzeit
nur essen –, spricht man heute während des
Essens nur über das Essen. So kam es, daß
Martinus beim Braten sagte: „Du kannst
doch auch nicht gerade behaupten, daß es dir
schlecht ginge. Leistest du dir das alle Tage?“
Ich warf mich in die Brust und wuchs um
zehn Zentimeter: „Na, in meiner Position!
Wir essen jeden Sonntag Fleisch, jawohl, oft
sogar auch einmal in der Woche. Das Fleisch
ist so billig – entsprechend dem allgemeinen
Preisabbau – geworden, daß man sich´s er-
lauben kann. Wenn´s so weiter geht, sogar
alle 14 Tage, schließlich alle drei Wochen.
Was willst du noch mehr? Im übrigen bin ich
gar nicht materiell. Ich sage mit allen Händ-
lern, die hauptsächlich für das Billigerwerden
des Viehes sorgen: Wir leben nicht um zu
essen, sondern wir essen Kartoffeln, um zu
leben. Sieh, wir braten zum Teil alles in
Margarine, da wir uns ja nicht nach dem
Gulden zu richten brauchen, besonders wenn
an der Börse spekuliert wird. In Cleve sind
wir endlich soweit: Was geht uns der Gulden
an, wir setzen unsere Preise nach der allge-
meinen deutschen Indexziffer, die allerdings
ein weiteres Steigen zeigte – nämlich in
bezug auf die Preise. – – Man nennt
das: folgern, Schlüsse ziehen –, anziehen –
so zieht alles. – Darum wird´s billiger. – –
Ach, wo´s jetzt Frühling ist, dieses herr-
liche Wetter, was sollen noch alle Sorgen.
Kohlen braucht man nicht, kocht auf dem
Gase, das immer – – siehe oben – –,
das Vieh kommt auf die Weide, damit fällt
das teure Kraftfutter fort, die Milch wird
mehr und billiger, – – oh, Frühling bedeu-
tet neues Auferstehen und Werden. In dem-
selben Augenblick merkte ich, daß es infolge
offener Türe und starken Sturmes fürchterlich
zog. „Minna, es zieht!“ schrie ich darum.
Martinus bemerkte: „Du bist zu dünn ange-
zogen, zieh‘ mehr an.“ – – Da konnte ich
mich nicht länger beherrschen und ich rief,
indem ich kraftlos zurücksank: „Alles zieht
an, ohne daß man etwas anzu-
ziehen hat.“ Daraufhin wurde der Tisch
abgeräumt. – Martinus meinte: „Uebrigens
habe ich gehört, daß die Eisenbahn-
tarife wieder erhöht werden sollen!“ Ich
wehrte schwach mit der Hand ab. „Was haben
wir mit der Eisenbahn zu tun, das kann mich
vorläufig nicht beunruhigen. – – Wir wol-
len ein anderes Thema anschlagen, denn alles
was mit Preisen zusammenhängt, hängt
einem allmählich zum Halse heraus. Immer
dasselbe Lied!“ – Mein Gegenüber nickte:
„Sollen wir von den Leuten
sprechen?“ „Um Gotteswillen.“ wollte ich
mich wiederum aufregen, bemerkte aber noch
rechtzeitig den Spott, der in Martinus Wor-
ten lag. „Der eine neidet dem andern sein
Stücklein Brot, wo der eine über den anderen
etwas Gehässiges sagen kann, tut er´s; mit
allen Mitteln wird versucht, einen Miß-
beliebigen beiseite zu schaffen. Wenn man
nur die Macht dazu hat. In der heutigen
Zeit! Aber solche Elemente gibt’s genug
und werden nie aus der Welt zu schaffen
sein.“ – –
Eine Weile verging in Schweigen, da schlug
vom nahen Kirchturm die Uhr. Da fiel mir
ein: „Wir müssen, lieber Martinus, in den
nächsten Tagen unbedingt einmal die
Annexkirche besichtigen, fleißige, talen-
tierte Hände haben hier Schönes geschaffen.
In der Pfarrkirche sind etwa dreißig
clevische Meister beschäftigt, die diesem pracht-
vollen Bau einen würdigen Frühling bereiten
sollen. So etwas zu sehen, macht Freude. Im
friedlichen Halbdunkel der Kirchen fühlt man
sich noch mehr als in der weiten Natur Gott
nahe, schöpft neue Kraft und neuen Mut, daß
man nicht verzweifelt. Denn schlimm
ist’s, schlimm, und dunkel liegt die
Zukunft. Wohl dem, der einen
festen Glauben und eine starke
Zuversicht sein eigen nennt!“
Friedericus.
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Stadtarchiv Kleve (28. April 2023). 28. April 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 9. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/af2a