Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 11. Juni 1923
Die Bergische Arbeiterstimme informiert die in der Stadt Wald zur Impfung aufgerufenen Personen über die Rechtslage hinsichtlich möglicher Zwangsmittel.
Wald.
Achtung, Impfgegner!
H. L. Die hiesige Polizeibehörde, so schreibt uns ein Leser unseres
Blattes, stellt den Impfgegnern polizeiliche Vorladungen zu, versehen
mit dem Polizeistempel Wald (ohne Unterschrift) und der Auffor-
derung: „in der Wohnung des Herrn Dr. Kielhorn zu erscheinen,
zwecks Impfung.“
Es heißt weiter: „1. die gegenwärtige Vorladung ist beim Er-
scheinen vorzuzeigen. 2. Im Nichterfüllungsfalle werden, sofern nicht
Abwesenheit, Krankheit oder diesseitig zulässige Hinderungsgründe
im Wege stehen, die gesetzlichen Zwangsmaßregeln in Anwendung
gebracht.“
Dazu sei folgendes bemerkt: Die Walder Behörde stellt sich damit
außerhalb des Rahmens des Gesetzes. Man merke sich vor allem:
Der Entwurf zum Reichsimpfgesetz führte die Ueberschrift: „Impf-
zwangsgesetz“ und der § 15 des Entwurfs lautet: Wenn ein Impf-
pflichtiger ohne einen gesetzlichen Grund der Impfung entzogen
geblieben ist und eine amtliche Aufforderung zur Nachholung sich
fruchtlos erweist, so kann die Impfung durch Zuführung zur Impf-
stelle erzwungen werden. Dieser § wurde gestrichen. Die Ueberschrift
„Impfzwangsgesetz“ wurde in „Reichsimpfgesetz“ geändert. Da-
mit enthält das vom Reichstag und Bundesrat genehmigte, vom
ersten Kaiser und seinem Kanzler unterzeichnete Gesetz keinerlei
Zwangsmittel irgendwelcher Art. Will die Walder Behörde
trotzdem Zwang ausüben, so beweist sie damit ihr völlig ungesetzliches
und verfassungswidriges Verhalten.
Nach § 5 der preußischen Verfassung ist die persönliche Freiheit
gewährleistet. Die Bedingungen und Formen, unter welchen eine Be-
schränkung derselben, insbesondere eine Verhaftung (Zwangs-
maßregel) zulässig ist, werden durch das Gesetz (hier Reichsimpfgesetz)
bestimmt.
Eltern, Pflegeeltern oder Vormünder, die ihr es nicht mit
eurem Gewissen vereinbaren könnt, eure Kinder oder Pflegebefohlenen
den Gefahren der Schmutzpockenimpfung [sic!] auszusetzen, laßt euch nicht
durch gesetzlich unhaltbare Verfügungen usw. seitens der Behörden
blüffen oder ins Boxhorn jagen, denn nach § 1 des Reichsimpfgesetzes
„sollen“, aber nicht „sind“ oder „müssen“ die Impfpflichtigen der
Impfung mit Schutzpocken unterzogen werden.
Es muß aber doch sehr traurig um eine Wissenschaft bestellt sein,
die durch drakonische Mittel mit Hifle [sic!] von Polizei und Staat sich
dem Volke aufdrängen muß. Vielleicht wird die Aerzteschaft so
freundlich sein, in öffentlichen unentgeltlichen Vorträgen, in denen
auch Gegner zur Diskussion zugelassen werden (natürlich mit un-
beschränkter Redezeit), das Volk über den Segen der Impfung auf-
zuklären. Es wäre dann nicht unmöglich, daß sich mancher Impfgegner
mit „Freuden“ impfen ließe, auch die Krüppel, die man im Kriege
auf Befehl wissenschaftlich k[riegs]v[erwendungsfähig] schrieb und schon viel geimpft und
gespritzt wurden.
Aber noch eins: Die Aerzte weisen statistisch nach, daß 70–80,
ja 90 Prozent aller Volksschulkinder und Kleinkinder tuberkulös,
rachitisch, unterernährt und krank sind. Nach dem Impfgesetz sollen
aber doch nur gesunde Kinder geimpft werden. Wer aber
bei Ausführung einer Impfung nach § 17 fahrlässig handelt, wird
mit Geldstrafe usw. [sic!] Möchte man da nicht einschreiten? Material
ärztliche Statistik.
Im übrigen wäre es an der Zeit, daß sich unsere Volksver-
treter in den Parlamenten der behördlichen Gesetzesüberschrei-
tungen annehmen und das Impfgesetz mit Stumpf und Stiel be-
seitigen. Auf keinen Fall aber dürfte die Aerzteschaft ihre Zustim-
mung zu Gesetzen geben, wie das jetzt zur Beratung stehende Gesetz
zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten es vorsieht. Denn die
Aerzte haben schon durch die jahrelange Anwendung des Salvarsan
bewiesen, daß sie nicht in der Lage sind, der Geschlechtskrankheiten
Herr zu werden, trotzdem der größte Teil der männlichen Be-
völkerung im Kriege unter ärztlicher Kontrolle stand. Trotz alle-
dem wurden die Krankheiten aus der Front und Etappe in die
dahinter liegende Heimat verschleppt. Aber das chemische Großkapital
machte Riesenprofite. (Höchster Farbwerke.)
Wir verlangen volles Recht und Freiheit über den eigenen Kör-
per und sind nicht gewillt, uns weiter in Knechtschaft und Abhängig-
keit führen zu lassen!
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Stadtarchiv Solingen: RK (11. Juni 2023). 11. Juni 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 9. November 2024 von https://doi.org/10.58079/af1m