20. Oktober 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 20. Oktober 1923

Das Solinger Tageblatt weist den Weg zum wertbeständigen Geldverkehr.

                          Wirtschaftlicher Teil.
           Wirtschaftlich-politische Tagesfragen.
Auf dem Wege zum Goldlohn. – Eine Normalformel. – Jedem
 das Seine. – Zurück zur Goldleistung. – Fort mit der Nivel-
                                     lierung.
     Nach einem Stillstand von nur wenigen Tagen hat die Mark
ihren Abstieg im zweiten Teil der Woche mit besonderer Schnel-
ligkeit fortgesetzt. Man braucht nicht unter den Pessimisten ge-
zählt zu werden, wenn man sich den Stimmen anschließt, die
glauben, nunmehr von der beginnenden völligen Auflösung spre-
chen zu müssen. Im Grunde genommen ist die Auflösung schon
geschehen, und nur die Tatsache, daß die Löhne und Gehälter
nach wie vor in Papiermark ausgezahlt werden, und daß Reich,
Provinzen und Gemeinden weiterhin Scheine mit der Bezeichnung
„Mark“ drucken, täuscht darüber hinweg, daß es eine Mark in
der Tat nicht mehr gibt. Der Staat und die Wirtschaft wissen
das, und beide ziehen daraus ihre Folgerungen. Sie haben auf-
gehört, in Mark zu rechnen. Beide haben, je länger desto mehr,
für ihre Waren oder Leistungen Grundzahlen festgelegt und mul-
tiplizieren diese mit Richtzahlen, die sich in irgendeiner Form
an den allmächtigen Dollar anlehnen, ohne daß es bisher mög-
lich gewesen wäre, zu einheitlichen Richtlinien für ihre Errech-
nung zu gelangen. Dazu wird es aber kommen, und man sollte
auch von Arbeitgeberseite sich etwas williger der Erkenntnis
zugänglich zeigen, daß wir so bald wie irgend möglich zu Gold-
löhnen und Goldgehältern zurückkehren müssen, nachdem die
Handhabung von Wertbeständigkeitsformeln ein so jämmerliches
Fiasko erlitten hat.
   In dieser Frage führen natürlich viele Wege nach Rom. Wenn
man sich über das Ziel einig ist, wird man einen Weg finden.
Der Weg ist also das Nachgeordnete. Was das Ziel angeht,
so muß man hier grundsätzlich von dem Bestreben ausgehen,
jedem Arbeitnehmer das wiederzugeben, was er vor dem Kriege
besessen hat. Dann beginnt die Abstreichung dessen, was wir,
die Nation, uns infolge des verlorenen Krieges nicht mehr leisten
können. Dann erst kommt die Frage nach der wirtschaftlichen
Tragbarkeit der Löhne für die Betriebe. Auch sie läßt sich fest-
stellen. Von diesen Ueberlegungen ausgehend, kommt man zu
keinem anderen Schluß als dem, daß eine Arbeitnehmerorgani-
sation vernünftigerweise keine andere „Forderung“ stellen kann
als die: Friedensgoldlohn + Weltteuerung x Geldentwertung.
Es besteht keine Unklarheit darüber, daß dieses Ziel aus den
angedeuteten Gründen nicht erreicht werden kann, und jeder
Arbeitnehmer wird sich bei vernünftiger Ueberlegung sagen, daß
er von dem realen Wert der genannten Formel einen Teil auf
den Altar des Vaterlandes legen muß für die Finanzierung der
Kriegsfolgen. Die Höhe dieses Opfers bleibt auszuhandeln. Wenn
man es meinetwegen auf 30 Prozent festgestellt hat, so darf man
natürlich diese 30 Prozent nicht etwa von dem nominellen Frie-
densgoldlohn abziehen, sondern von dem Friedenslohn + Welt-
teuerung. Alles andere wäre eine einseitige Mehrbelastung einer
Berufsgruppe. Die schwierigste Frage ist natürlich die nach der
Tragfähigkeit der verschiedenen Industriezweige, und durch sie
werden sich Abweichungen von den allgemein festgestellten Nor-
men ergeben, die sehr weitgehender Natur sein können.
    Als unerläßliche Vorbedingung für eine Goldentlohnung be-
trachten wir die Wiederherstellung der Goldleistung. Das kom-
mende Arbeitszeitgesetz soll sie erleichtern. Mit der Arbeits-
zeit ist es aber nicht getan, sie bedarf als Weggenossin der
Wiederherstellung der Arbeitsintensität, die ihrerseits, man kann
es drehen wie man will, wieder von der Entlohnung abhängig
ist. So greifen die Fragen weitestgehend ineinander, und man
wird sich auf allen Seiten des besten Willens befleißigen müssen,
um in dieser Richtung wirklich einen Schritt vorwärts zu kom-
men. Das ist nur möglich, wenn die Regelung in einer Weise
eingeleitet und durchgeführt wird, daß sich jede von beiden
Parteien beim Verlassen des Verhandlungstisches sagen kann,
daß bei der Neuordnung Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit maß-
gebend gewesen sind, und daß beim Gewinn wie beim Opfer
Jedem das Seine geworden ist. In diesem Zusammenhange ist
es nicht unnütz, zu betonen, daß die Arbeitnehmer, die auf einen
großen Teil ihres Friedenslohnes verzichten müssen, einen ent-
sprechenden Verzicht des Arbeitgebers auf seinen Friedensver-
dienst mit Recht verlangen können, wenn anders auch nach außen
hin das Bestehen einer deutschen Schicksalsgemeinschaft, die
so gerne im Munde geführt wird, sichtbar bleiben soll. Dadurch
erhält die zunächst wirtschaftliche Frage einen sozialpolitischen
Einschlag, und wir glauben, daß sie unter dessen Außerachtlas-
sung nicht zu lösen sein wird.
   Bei einer weiteren Durchdenkung des Problems ergibt sich
jedoch noch ein weiteres. Die Gewerkschaften werden sich
wohl oder übel zu der Ueberzeugung durchringen müssen, daß
bei der Wiederherstellung von Goldleistung und Goldentlohnung
die Praxis der Nivellierung ehestens aufgegeben werden muß.
Wir glauben nicht zu weit zu gehen, wenn wir behaupten, daß
gerade das Festhalten der Gewerkschaften an der Lohnnivel-
lierung eines der stärksten Dokumente ist, die die Arbeitgeber
mit einem hohen Grade innerer Berechtigung immer wieder von
einem Herangehen an die Frage der Goldentlohnung zurückgehal-
ten haben. Wir können uns der Erkenntnis nicht verschließen,
daß gerade die Lohnnivellierung außerordentlich produktionsver-
teuernd wirkt und diejenigen um ihren Arbeitsertrag bringt, die
ihn am meisten verdient haben, während sie einer anderen Gruppe
einen Güterverbrauch ermöglicht, der zu seiner Erzeugung in
keinem Verhältnis steht. Leider haben die Arbeitgeber den Feh-
ler gemacht, daß sie die Nivellierung in der Bezahlung auch der
hochwertigsten und am wenigsten meßbaren geistigen Arbeit
mittelbar dadurch unterstützt haben, daß sie es zum Zusammen-
schluß von Tarifgemeinschaften innerhalb der geistigen Arbeiter-
schaft kommen ließen. Auch hier wird ehestens der Abbau be-
ginnen müssen.
   Es handelt sich demnach in den kommenden Wochen um
grundlegende Umgestaltungen der Arbeitsverhältnisse, und es
ist die Aufgabe aller Beteiligten, dafür zu sorgen, daß für sie eine
Form gefunden wird, die es jedem Einzelnen ermöglicht, willig
und freudig in die Speichen zu greifen, damit die Räder der
deutschen Wirtschaft in ihrem Lauf wieder den Schwung er-
halten, der allein der Freiheit eine Gasse bahnt.     H.
                    
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Stadtarchiv Solingen: RK (20. Oktober 2023). 20. Oktober 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 10. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/af0v


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