Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 13. August 1923

Eine große Protestversammlung der KPD im Solinger Kaisersaal mündet in Resolutionen mit Forderungen auf nationaler und kommunaler Ebene sowie einer Verurteilung des Verhaltens des Solinger Oberbürgermeisters.

      Schärfster Kampf gegen den gemeinsamen Feind!
„Wie verhindern wir die vollständige Verelendung der Arbeiterschaft                           und des Mittelstandes?“
   Zur Erörterung dieser heute im Vordergrunde des deutschen
Wirtschaftslebens stehenden Frage hatte die Kommunistische Partei
Solingens für Freitag abend die Massen aufgerufen. Und in großen
Scharen waren sie herbeigeeilt zum Kaisersaal, um das Referat des
Genossen Oberdörster zu hören. Der Redner streifte kurz die
diesjährige Verfassungsfeier, deren wahre Bedeutung sich widerspiegele
in den katastrophalen Verhältnissen unserer heutigen Schandwirt
schaft. Wenn das der Geist von Weimar ist, dann stimmt es schon den
kühnsten demokratischen Optimisten pessimistisch. Es ist eben Tat‐
sache: Weite Kreise der Verfassungsfreunde pfeifen heute auf Weimar.
Was heute das Gros des deutschen Volkes gefangen hält und stürmisch
bewegt, das sind die gewaltigen Kämpfe um mehr Lohn,
um mehr Brot! Alle Lohnerhöhungen und Lohnkämpfe werden
illusorisch gemacht durch die sich stündlich überstürzende Preisentwick‐
lung. Die Preise haben bereits eine direkt wahnsinnige Höhe
erreicht, die fast kaum noch durch Millionen-Stundenlöhne wett
gemacht werden können. Daraus ergibt sich, daß andere For‐
men des Kampfes geschaffen werden müssen. Redner griff zurück auf
die unerhörten Vorgänge am verflossenen Montagabend, da der
Oberbürgermeister Dicke sich als echter teutscher Patriot zeigte, indem
er die britische Militärmacht gegen ruhige Arbeitermassen hetzen lies
auf Geheiß des Solinger Ausbeutertums. Stürmische Pfuirufe
quittierten die Schandtat des Lutterbeck II. von Solingen.
   Nicht nur die Arbeiter verelenden, auch der Mittelstand, die
Kleinhändler, Kleinhandwerker, die unteren Beamten usw. befinden
sich in furchtbar verzweifelter Lage. Leider erkennen es viele von
ihnen noch nicht, wie töricht sie handeln, daß sie in der Arbeiterschaft
ihren Feind und in dem Großkapitalisten ihren Busenfreund er‐
blicken. Und gerade die letzteren sind die Todfeinde aller Fleißigen
aller schaffenden Schichten. Aufklärung sei aber auch notwendig in
Konsumentenkreisen. Es gelte zu erkennen, daß der Kleinhändler nur
gegen Papiermark verkaufen müsse, während er seine Waren nach dem
jeweiligen Kurswert der Mark, nach Pfund, Dollar oder Gulden zu
bezahlen habe. Deshalb können viele Geschäftsleute nichts mehr ein‐
kaufen; es fehlt ihnen wie den Käufern eben an den nötigen Bar‐
mitteln. Weil die Händler und Geschäftsleute leider auch heute noch
im Bunde stehen, deshalb mißtrauen ihnen die Arbeiter und haben
kein Interesse daran, den Mittelstand zu erhalten. Eben deshalb
nicht, weil er gegen den Arbeiterstand eingestellt ist. Die Mittel‐
schichten müssen jedoch gezwungenermaßen unsere Kampfgenossen
werden, um auch ihre eigene Verelendung abzuwehren. Sie mögen
sich hüten vor dem Sirnengesang [sic!] der kapitalistischen Presse, die
ihnen vorgaukelt, nur der Versailler Vertrag sei die Ursache ihres
heutigen Elends. Da denke man nur weiter zurück. Was war denn
aber die Ursache des Versailler Vertrages? Der imperialistische
Krieg, und zu einer solchen Wahnsinnstat hetzen dieselben Kapi‐
talistenblätter aufs neue. Und diese neue Kriegshetze wird und muß
wieder neue unsägliche Leiden für die gesamte Menschheit im Gefolge
haben.

   Genosse Oberdörster erklärte im weiteren das Wesen des Im‐
perialismus und des Kapitalismus international sowie die weltwirt-
schaftlichen Zusammenhänge, aufs höchste bedroht durch die beiden
vorgenannten sich gegenseitig stützenden Faktoren zum Verderben
der gesamten Menschheit. Weiter sprach er eingehend über die
Finanz- und Wirtschaftsverhältnisse der beiden Rivalen Frankreich
und Deutschland. Der heutige Wirtschaftskrieg zwischen beiden Län‐
dern bedeute Leben oder Tod für sie, insbesondere für das vielleicht
noch stärker verschuldete Frankreich als Deutschland. Der heutige
Tiefstand der deutschen Mark ist die unausbleiliche [sic!] Folge der Riesen‐
spekulationen der Kapitalisten, die das Land vollständig aussogen.
Alle Markstützungsaktionen, die der Reichsbank ungeheure Gold‐
verluste kosteten, waren und sind für die Katz’. Wir sind erstaunt,
daß das Kapital uns so schnell zum Ruin geführt hat. Die Cunosche
Programmrede vom verflossenen Mittwoch mit all den süßen Ver‐
sprechungen ist wieder weiter nichts als weiße Salbe. Die große
Koalition von Helfferich bis Hilferding wird gleichfalls nichts helfen,
sondern uns nur dem Bürgerkrieg näherbringen.
   Die kapitalistische Wirtschaft hat keine Lebensfähigkeit mehr, des‐
halb müssen Mittelstand und Arbeiterschaft den Ernst der Stunde
erkennen. Schon erhebt der teuflische Faszismus sein
Haupt, um neues Unglück über Deutschland zu bringen. Das kann
und wird verhindert werden, wenn alle unterdrückten Mittelschichten
mit der Arbeiterschaft zusammenstehen in geschlossener
Kampfbereitschaft zur Erringung einer Arbeiter- und
Bauernregierung, denn nur diese allein wird lebensfähig sein und
bleiben, weil sie die Träger der deutschen Wirtschaft sind. Den
schweren Kampf, der kommen wird, glücklich zu bestehen, dazu bedarf
es der ganzen Kraft der gesamten arbeitenden
Kreise.
   Die Führung dieses Kampfes werden wir Kommunisten über‐
nehmen. Dann gibt’s weder ein 1918 wieder, noch ein Bielefeld!
(Stürmisches Bravo und Händeklatschen.)
   Die nachfolgende Diskussion ergab vollste Uebereinstimmung mit
dem Referenten. Besonders erwähnenswert war der flammende
Appell des Genossen Lüchem an die Versammelten, die bürgerliche
Presse aus den Arbeiterwohnungen zu verbannen und dafür ihre ein‐
zige Interessenvertreterin, die „Bergische Arbeiterstimme“, zu abon‐
nieren.
   Nach einem kurzen, markigen Schlußwort des Referenten brachte
der Versammlungsleiter, Genosse Rosin, nachstehende drei Ent‐
schließungen zur Abstimmung, die einstimmige Annahme fanden.                                                                                                      *
   „Die heute im Kaisersaal Solingen versammelten Arbeiter, An‐
gestellten, Beamten und Bürger fordern:
   1. Rücktritt der Regierung Cuno und Einsetzung einer Arbeiter‐
       und Bauernregierung.
   2. Säuberung der Reichswehr und der Verwaltung von allen
       reaktionären Beamten.
   3. Bewaffnung der Arbeiter zum Schutze der Republik und zur
       Durchführung der Maßnahmen der Arbeiter- und Bauern‐
       Regierung.
   4. Bekämpfung des Wuchers durch die Kontrollausschüsse der Ar‐
       beiterschaft.
   5. Schärfste Kontrolle der Produktion.
   6. Erfassung der Sachwerte zur Deckung der Reichsausgaben und
       zur Gesundung der Reichsfinanzen.
   7. Schleunigste Anpassung der Löhne, Gehälter und Unterstützun‐
       gen an die Geldentwertung.
    Die Versammelten fordern von der Stadtverwaltung:
   1. Bereitstellung von Mitteln für die Beschaffung der notwen‐
       digen Lebensmittel und Abgabe dieser zu dem jeweiligen Ein‐
       kaufspreise zuzüglich des ortsüblichen Handelszuschlages.
   2. Bereitstellung von Krediten zur Beschaffung von Kohlen, Kar‐
       toffeln und sonstigen größeren notwendigen Anschaffungen an
       alle Lohn- und Gehaltsempfänger und in Not befindliche Klein-
       rentner und Kleinbürger.
   3. Ausbau der Schulspeisung für die Kinder der Arbeiter, An‐
       gestellten und in Not befindlichen Kleinbürger und Einrich‐
       tung einer Volksküche für die minderbemittelte Bevölkerung.
   4. Bemessung der Wohlfahrtsunterstützung nach den Lebens‐
       mittelpreisen und wöchentliche Auszahlung der Unterstützung.
   5. Uebernahme der Entbindungskosten für die Frauen aller Lohn‐
       und Gehaltsempfänger und Bereitstellung von Mitteln zur
       Beschaffung von Säuglingswäsche.
   6. Uebernahme der Beerdigungskosten für Angehörige aller Lohn‐
       und Gehaltsempfänger und bedürftigen Mittelschichten.
   7. Staffelung der Gas, Wasser- und Elektrizitätspreise nach
       dem Einkommen.
   8. Anerkennung des Kontrollausschusses und Uebertragung von
       Polizeirechten an die Mitglieder dieses zur Bekämpfung des
       Wuchers und der Verhinderung der Zurückhaltung von
       Waren.
   9. Bekämpfung der Wohnungsnot durch wirksame Beschlag‐
       nahme aller großen Wohnungen.
   Von ihren Vertretern im Stadtparlament fordern die Versam‐
melten schnellste Durchführung dieser Maßnahmen.
                                                    *
                            Ein Notschrei der Hungernden!
   „Die sehr stark besuchte Volksversammlung verlangt sofortige
Maßnahmen seitens der Verwaltung, um die bittere Not der Hinter‐
bliebenen, Erwerbsunfähigen, Kriegsopfer, sowie aller in Not Ge‐
ratenen zu lindern“.
                                          *
   „Die heutige öffentliche Volksversammlung im Kaisersaal zu
Solingen verurteilt aufs schärfste das unerhört provokatorische Ver‐
halten des Oberbürgermeisters Dicke am Montagabend, indem er die
Besatzungstruppen gegen die Arbeiterschaft zu Hilfe rief, ohne jeg‐
liche Ursache. Die Versammlung ist der Ueberzeugung, daß der
Oberbürgermeister mit diesem infamen Streich lediglich die Geschäfte
der Kapitalisten besorgt hat.