Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 6. Juli 1923
Die Solinger Betriebsrätevollversammlung fordert in einem „Offenen Brief“ von den Bezirksleitungen des ADGB, der VSPD, der USPD und der KPD entschiedene Abwehrmaßnahmen zum Schutz der Arbeiterschaft
Offener Brief
der Solinger Betriebsräte an die Bezirksleitungen des ADBG.,
der VSPD., USPD. und KPD.
(Einstimmig angenommen in der Betriebsräteversammlung des ADGB. Solingen am 4. Juli 1923.)
An die Bezirksleitungen des ADGB.,
der VSPD., USPD. und KPD.
Solingen, den 4. Juli.
Werte Genossen!
Die letzten Wochen haben allen Volksschichten, sowohl
den Hand- und Kopfarbeitern, wie auch den vom Groß‐
kapital gleich einer Zitrone ausgequetschten Mittelständlern
klar und eindeutig folgende ernste und akute Gefahren
offenbart:
Erstens: Die Kapitulation der den Abwehrkampf gegen
Poincaré sabotierenden Großbourgeoisie vor dem imperia‐
listischen Frankreich und die beabsichtigte Abwälzung der
Reparationslasten und der Kosten des Ruhrkampfes auf die
unterernährten und wirtschaftlich entwurzelten breitesten
Volksschichten Deutschlands.
Zweitens: Die Zerstückelung der deutschen Wirtschaft,
die Vernichtung der nationalen Selbständigkeit Deutsch-
lands durch Verkauf großer Wirtschaftsunternehmungen,
wie z. B. „Phönix“, an Ausländer, und die von Frankreich be‐
absichtigte Lockerung der Rheinlande im deutschen Reichs‐
körper, der eine völlige Loslösung der Rheinlande und deren
Annexion durch Frankreich folgen wird.
Drittens: Die offen ausgesprochene Absicht der deutschen
Großindustriellen und Agrarier, die deutschen Reichssach‐
werte (Eisenbahnen) zu „erfassen“, den Achtstundentag auf‐
zuheben, den Wucher auf allen Gebieten schrankenlos zu
entfalten und den Reallohn der Lohn- und Gehaltsempfänger
weiter zu senken.
Viertens: Eine täglich stürmischer auftretende Verteue‐
rung aller Waren, so daß deren Angleich an die Welt‐
marktpreise sehr bald eintreten wird, und die brutale Ab‐
lehnung der unzulänglichen Forderung der Spitzenorgani-
sationen auf Wertbeständigkeit des jetzigen Reallohnes, der
35 Prozent der Kaufkraft des Vorkriegslohnes beträgt.
Fünftens: Die sich in letzter Zeit mehrenden verbreche-
rischen Attentate auf Arbeiter und Eigentum der Arbeiter-
parteien (Münstersche VSPD.-Druckerei) im Rahmen einer
täglich wachsenden und aggressiver werdenden Offensive der
organisierten Konterrevolution, die mit großkapitalistischen
Geldern finanziert wird, die sich aber auch nicht geniert,
französische Gelder anzunehmen, zur Füllung der Kriegskasse
gegen deutsche Volksgenossen.
Diese und eine ganze Reihe anderer Gefahren zwingen
die bedrohten Volksmassen zum Zusammenschluß und zur
einheitlichen Abwehr. An der Spitze dieses Abwehrkampfes
müssen die organisierten Arbeitermassen marschieren. In
dem Maße, wie es ihnen gelingt, die in Gefahr stehenden
Volksschichten zusammenzuschließen zum Kampf gegen das
syndizierte und vertrustete Großkapital und zur Erringung
des Sieges über dasselbe, in dem Maße werden sie die
Existenz einer selbständigen deutschen Wirtschaft und Nation
und ihre eigene Existenz sichern. Geschieht dieses nicht,
bleiben wir weiter passiv und in Illusionen befangen, dann
ist die Katastrophe nicht aufzuhalten.
Es muß deshalb sofort eine Verständigung und Eini‐
gung zum Kampf unter den Arbeiterorganisationen herbei‐
geführt werden. Das deutsche Gebiet hier im Westen und
seine arbeitende Bevölkerung sind ganz besonders bedroht.
Wir schlagen deshalb den Bezirksleitungen des ADGB.
der VSPD., USPD. und der KPD. vor, schnellstens zu einer
gemeinsamen Sitzung zusammenzutreten, um praktische Maß‐
nahmen zu beraten und zu beschließen, die geeignet sind,
die aufgezeigten Gefahren abzuwehren. Durch einen gemein‐
samen Aufruf müßten sich die obengenannten Organisations‐
leitungen an die Hand- und Kopfarbeiter, sowie an die vom
Großkapital enteigneten Mittelständler wenden und diese
zum Abwehrkampf zu mobilisieren.
In Betriebs-, Gewerkschafts- und öffentlichen Volks‐
versammlungen müßte sofort die kritische Situation dargelegt
und die einheitliche Abwehr aller ausgebeuteten, betrogenen
und bestohlenen Volksschichten als einziges Rettungsmittel
eindringlichst empfohlen werden. Des weiteren wäre un-
umgänglich notwendig, daß die Bezirksinstanzen an die
Spitzenorganisationen herantreten, um diese ganz energisch
zu veranlassen, scharfe parlamentarische und außerparlamen‐
tarische Aktionen auf einheitlicher Basis durchzuführen mit
den nächsten notwendigsten Zielen:
Sofortige Aufnahme eines großen einheitlichen Kampfes
durch die Gewerkschaften um Erhöhung der Löhne auf
den Stand des Friedensreallohnes.
Umgehende Bildung proletarischer Kontrollaus‐
schüsse durch alle Arbeiterorganisationen zu schärfstem
Kampf gegen Teuerung, Wucher und Schieber.
Zur Abwehr gegen die immer ernster werdende Gefahr
der Konterrevolution (Faszismus) sofortige Bildung ge‐
meinsamer proletarischer Abwehrorganisationen.
Erfassung der Sachwerte der Großkapitalisten in
Industrie, Handel, Finanz und Landwirtschaft zwecks Verhin‐
derung der Abwälzung der gesteigerten Reparationslasten
auf das arbeitende Volk und als Voraussetzung der Ge‐
sundung der Finanzwirtschaft, der Stabilisierung der Preise
und der Hebung und Wertbeständigmachung der Reallöhne.
Produktionskontrolle zur Verhinderung der Ver‐
schacherung deutscher Sachwerte an das Ausland und als
Voraussetzung zur Hebung der Wirtschaft, der Produktion
und der Lebenshaltung der Arbeitenden.
Reichsarbeiterregierung zur Durchführung oben
genannter Maßnahmen, zur Unterstützung der sächsischen
sozialdemokratischen Regierung, als Kampfregierung gegen
Großkapital und Monarchisten, die in engstem wirtschaftlichen,
politischen und militärischen Bündnis mit dem aufwärts‐
steigenden Sowjet-Rußland, steht und die allein imstande
ist, die Kolonisierung Deutschlands und damit die völlige
Versklavung breiter Volksschichten durch das vereinigte
französisch-deutsche Trustkapital zu verhindern.
Wir erwarten deshalb die zustimmenden Antworten der
Bezirksleitungen.
Gleichzeitig fordern wir alle Betriebsräte, Gewerk‐
schaftskollegen, Ortsausschüsse und die gesamte Arbeiter‐
schaft von Rheinland-Westfalen auf, diesen unseren Schritt
wirksam zu unterstützen.
Mit proletarischem Gruß
Die Kommission der Solinger Betriebsräte des ADGB.
Blockhaus Hellmann Löhmer
ADGB. VSPD. KPD.
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Stadtarchiv Solingen (6. Juli 2023). 6. Juli 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 16. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/aewl