9. Februar 1923

Änne Wagner im Jahre 1923 in der Buchhandlung der Bergischen Arbeiterstimme und im Oktober 1987 im Stadtarchiv Solingen. Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bildarchiv RS 27953 und Ausschnitt von RS 19241

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 9. Februar 1923

Kinder in Not: „Gerade in der allerletzten Zeit haben sich die Ernährungs- und Gesundheitsverhältnisse bei den katastrophalen Geld- und Wohnungsverhältnissen rapide verschlechtert.“

                                       Aus Stadt und Umgegend.
                                                                                    Solingen, 9. Febr[uar].

                          Helft unseren hungernden Kindern!
       Von besonderer Seite werden wir gebeten, folgenden Aufruf
zu veröffentlichen:
       Unser Volk hungert; hungert, wie es noch nicht gehungert
hat. Die einzelnen krassen Fälle in den Zeitungen erfassen nicht
das ganze Elend. Wer Augen hat, dem wird erst das Ungeheuer-
liche klar, daß wir zu Grunde gehen müssen, wenn nicht jeder mit
offenen Händen gibt, was er geben kann. Zwar sind wir von ver-
heerenden Seuchen verschont geblieben bisher aber was droht? Die
lange Hungerzeit hat die Abwehrstoffe des Körpers beeinträchtigt,
sie sind nicht von heute auf morgen wieder aufzubauen, aber sie
müssen allmählich wieder aufgebaut werden, sonst sind Krank-
heiten und Siechtum das Los des deutschen Volkes.
       Es ist eine Schmach, daß einige noch prassen, an den Pranger
gehören sie als Verräter unseres Volkes. Alle Einsichtigen aber

müssen zur deutschen Notgemeinschaft beisteuern, wie sie jetzt aller-
orts gegründet ist und durch Beispiel und Tat helfen. Denke
nur keiner, wenn es ihm gut geht, wenn er gesund ist, daß ihm
dann nichts geschehen kann. „Um dein eigenes Leben handelt es
sich, wenn des Nachbars Wand brennt“, sagt ein alter Dichter.
Die Not der Festbesoldeten, der Kleinrentner, der Witwen, der
Kinderreichen, der freien Berufe ist bekannt. Schwer leidet unsere
in der Ausbildung begriffene heranwachsende Jugend, schwer
leiden unsere Schulkinder, schwer leiden unsere kleinen Kinder.
       Gerade in der allerletzten Zeit haben sich die Ernährungs- und
Gesundheitsverhältnisse bei den katastrophalen Geld- und Woh-
nungsverhältnissen rapide verschlechtert. Als ein Kind in der
Schule in Ohnmacht fiel, weil es, wie festgestellt wurde, täglich
nur Kartoffeln bekam und Sonntags mit Brühe drüber von aus-
gekochten Knochen, da erhoben sich klagen, und helfende Hände
griffen zu. Aber wie sieht es mit den anderen Kindern aus? Wo
sind die roten Backen geblieben? In einer Neußer Schule war ein
Drittel der Schulkinder unentwickelt, eine große Anzahl war
lungenkrank, hatte Haut- und Drüsenerkrankungen und Rückgrat-
verkrümmungen, von den Mädchen waren 40, von den Knaben 38
Prozent nicht gesund. Und das sind keineswegs die schlimmsten
Zahlen. Nach den vorsichtigsten Beobachtungen bedarf die Hälfte
der Schulkinder einer besseren Ernährung, ja die Zahlen gehen bis
75 und 80 Prozent, und das in kleinstädtischen Verhältnissen, wo
die Verhältnisse besser liegen als in den größeren Städten.
Während früher die Zahl der vom Schulbesuch wegen unge-
nügender Entwicklung zurückgesetzten Kinder nur wenig um 10
oder 11 Prozent schwankte, wird jetzt von 25 Prozent berichtet; das
sind nie gesehene Zahlen.
       Was soll mit unsern Kindern, unserer Hoffnung, werden?
Ganz besonders bedenklich ist die Zunahme der Zahl und der

Schwere der Tuberkuloseerkrankungen, mag die Zahl der Todes-
fälle etwas gefallen sein, das hat seine besonderen Gründe, die Er-
krankungen nehmen zu, sie müssen zunehmen in der unterernähr-
ten Bevölkerung, und das unheimlich unter der blühenden Heide
glimmende Feuer, das jetzt nur hie und da aufflammt, wird zum
verheerenden Brand, wenn nicht alles geschieht, um es zu er-
sticken. Da muß das Land nach Kräften helfen, daß Nahrungs-
mittel zu erschwinglichen Preisen zu erlangen sind, daß namentlich
die Milch nicht verschwindet, sondern reichlicher geboten wird, da
muß die reiche Stadt helfen, die die besten Einrichtungen hat, da
muß sich alles zusammenscharren und geben, was nur irgendwie möglich
ist; wird nicht von allen Seiten geholfen und jeder Not mit allen
Mitteln gesteuert, dann verschlingt das Elend Gute und Böse,
Reiche und Arme, Herd und Vaterland!                            R. Df.

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Stadtarchiv Solingen: RK (9. Februar 2023). 9. Februar 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 23. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/ae20