14. Mai 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 14. Mai 1923

Ein Vergleich der Lebenshaltungskosten und Kaufkraft von englischen und deutschen Arbeitern

                                                Armer Deutscher!
   Unter dieser Ueberschrift gab vor kurzer Zeit die volksparteiliche
„Zeit“ eine Zusammenstellung wieder, die der „Westminster Gazette“
entnommen ist und die eine Gegenüberstellung enthält über die Zeit,
die ein Engländer und ein Deutscher aufwenden müssen, um gewisse
Lebensnotwendigkeiten zu erarbeiten. Diese Gegenüberstellung enthielt
folgende Zahlen:

                                                           Deutsch. Angestellter          Engl. Angestellter
1 Pfund Margarine                            5 Stunden                              20 Minuten
1 Ei                                                         30 Minuten                               10 Minuten
1 Pfund Feinzucker                           1 Stunde                                 20 Minuten
1 Pfund rationiertes Brot       1,20 Stunden                               15 Minuten
1 Pfund Rindfleisch                     4,0 Stunden                            1,15 Stunden
1 Anzug                                                 7 Wochen                               1½ Woche
1 Paar Schuhe                                   5 Wochen                                  2 Tage
1 Stück Seife                                   45 Minuten                                12 Minuten

   Dazu bemerkt die „Zeit“, daß die Preise, die dieser Gegenüber‐
stellung zugrunde liegen, durch die Teuerung des ltzten [sic!] Vierteljahres
bereits weit überholt sind. Im allgemeinen zeigt die Gegen‐
überstellung, was von dem Gerede der deutschen Unternehmer zu hal‐
ten ist, daß Lohnerhöhungen in größerem Umfange nicht vorgenom‐
men werden dürften, wenn die Industrie auf dem Weltmarkte kon‐
kurrenzfähig erhalten bleiben soll. Das Gegenteil ist viel‐
mehr richtig. Wenn die Leistungsfähigkeit der Arbeiter und An-
gestellten sowohl als Produzenten wie als Verbraucher gesteigert wer‐
den soll, dann muß auch ihr Realeinkommen eine wesentliche Stei‐
gerung erfahren.
   Wie das Unternehmertum jedoch darüber denkt, ersieht man
am besten aus den brüsken Ablehnungen von Lohn- und Gehalts‐
forderungen sogar unter den unerhörtesten Argumentationen. Dabei
verweisen wir nur auf die erbärmliche Entlohnung der
kaufmännischen und technischen Angestellten
Solingens sowie ferner auf die am Samstag von uns veröffent‐
lichten Hungerlöhne, die vom Bekleidungsarbeiter-Verband
bekanntgegeben wurden. Aber auch in allen anderen Berufen werden
Löhne gezahlt, die die Arbeiterschaft auf der ganzen Linie aufpeit‐
schen müßten, um ihre Organisationen vorwärts zu treiben, sie zu
zwingen, dem Unternehmertum den schärfsten Kampf anzusagen. Die
Not und das Elend fordern unter dem Proletariat Deutschlands
immer größere und zahlreichere Opfer. Der Kampf um das Existenz‐
minimum muß von der gesamten Arbeiterschaft durch den ADGB.
sofort aufgenommen werden, denn das Durchschnittseinkommen des
deutschen Arbeiters reicht kaum mehr aus, auch nur ein Drittel der
zum Leben benötigten Ausgaben zu decken.
   Armer Deutscher! Fasse endlich Mut, raffe dich auf und
erkämpfe dir das, was du zum Leben brauchst!


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Stadtarchiv Solingen (14. Mai 2023). 14. Mai 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 9. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/aeur


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