6. September 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 6. September 1923

Ein Plädoyer des Solinger Tageblatts für eine freie und unabhängige Presse, auch als „wichtigste Voraussetzung“ für die Demokratie.

                            Aus Stadt und Umgegend.
                                                         Solingen, 6. Sept[ember].
            Die Notwendigkeit einer unabhängigen Presse.
       Wir leben heute alle von der Hand in den Mund. Ein Haus-
haltsetat, heute aufgestellt, ist morgen schon wieder vom Dollar-
kurs durcheinandergewühlt. Eine mit vielen Nullen beschwänzte
Zahl, die heute erschreckt oder erfreut, je nachdem, ob man sie
ausgeben muß oder einnimmt, hat morgen durch Gewohnheit
schon ihre Wirkung eingebüßt. Unsere Vorstellung vom Wert des
Geldes eilt in riesenhaften Sprüngen den sinnlosen Ziffern nach,
die der Kaufpreis eines Dollars bei uns erklettert hat. Es ist ein
trauriges tägliches Umlernen, das uns zur Selbsterhaltungspflicht
geworden ist.
       Die Zeitung, die diesem raschen Wechsel der Dinge und Werte
ebenso unterworfen ist wie jeder andere Gewerbebetrieb, hat heute
das Recht und die Pflicht, auch einmal für sich selbst ein gutes
Wort einzulegen, das sie sonst das Jahr über täglich für die
Interessen der übrigen Bevölkerungskreise in die Wagschale [sic!] wirft.
In diesen Zeiten einer zermürbenden Teuerung ist es begreiflich,
daß man zunächst nur an die Bedürfnisse der materiellen Exi-
stenz denkt, und es ist für ein Kulturvolk wie das deutsche beson-
ders schmerzlich, daß dieser Kampf um das tägliche Brot, daß die
Befriedigung der einfachsten Lebensbedürfnisse allein schon die
finanzielle Kraft der meisten fast völlig erschöpft. Aber trotzdem
spielt die Ausgabe für die Zeitung in den gesamten heutigen
Lebenshaltungskosten eine so untergeordnete Rolle, daß sie auch
im kleinsten Haushalt aufgebracht werden kann. Und sie muß
aufgebracht werden, schon aus praktischen Erwägungen. Der
Schaden, der jedem erwächst, der sich nicht täglich aus der Zeitung
über die Wirtschaftslage, die Preisbewegungen, die Ankündigung
wichtiger Neuerungen und die sonstigen unzähligen wichtigen Mit-
teilungen der Tagespresse unterrichten kann, ist unvergleichlich
viel größer als der Betrag, den der Bezug der Zeitung kostet.
       Nicht weniger schädlich sind die sonstigen Folgen, die ein-
treten müßten, wenn die Tagespresse infolge kleinlicher Spar-
samkeit am falschen Platze ihrer öffentlichen Wirksamkeit beraubt
würde. Die Presse ist nicht nur eine Folgeerscheinung der neu-
zeitlichen Demokratie, der Idee, daß sich ein Volk selbst verwalten
und regieren soll, sondern auch deren wichtigste Voraussetzung.
Wie kann ein Staat, wie eine Gemeinde gedeihen und Bestand
haben, wenn sich der Bürger von ihm abwendet und sich nur
um den kleinen Kram seiner vier Wände kümmert! Selbst wenn
der Einzelne dies aus Stumpfheit und Unvernunft wollte, die
Sturzwellen des gemeinsamen Schicksals unseres Volkes umspülen
trotzdem sein Haus und brechen in seine Wände ein. Wir stehen
in den schwersten Erschütterungen, in den schmerzlichsten Kämpfen
um den inneren und äußeren Bestand unserer deutschen Heimat,
da müssen wir die Augen offener halten denn je, unser Urteil
schärfen, uns gegen Gefahren rüsten und unserer Liebe zur Heimat
die größten Opfer auferlegen. Wie anders aber soll der Zu-
sammenhang zwischen uns lebendig bleiben, in den ungeheuerlichen
Erlebnissen seine Schwingungen beibehalten als durch die Ver-
mittlung der Presse?
       Aber gerade weil die Bedeutung der Presse heute so groß ist,
kann sie zur umso größeren Gefahr werden, wenn sie nicht der
Oeffentlichkeit dient, sondern dem geschäftlichen Profit von Inter-
essentengruppen. Die Tagespresse hat schwere Leidensjahre hin-
ter sich. Diese Notlage haben kapitalkräftige Industriekonzerne
dazu benutzt, sich einen Teil der deutschen Zeitungen anzueignen,
und damit, da es wohl nicht aus Liebe zur Presse geschah, sich
dienstbar zu machen. Es sind das gerade diejenigen Kapitalkreise,
die die wichtigsten wirtschaftlichen Produkte herstellen, deren Ver-
teuerung weit über den Weltmarktpreis hinaus am schwersten
auf den Geldbeutel jedes Einzelnen lastet. Allein dieser Hinweis
genügt, um kenntlich zu machen, welches Interesse die Allgemein-
heit an derjenigen Presse hat, die sich ihre wirtschaftliche Selb-
ständigkeit bewahrt hat, um frei von jedem selbstsüchtigen Einfluß
nur die Interessen des Volkes vertreten zu können.

Wenn Sie sich die vollständige Ausgabe des Solinger Tageblatts ansehen möchten, klicken Sie auf den Link: Solinger Tageblatt vom 6. September 1923


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Stadtarchiv Solingen: RK (6. September 2023). 6. September 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 8. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/aesz


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