25. August 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 25. August 1923

Stadtverordnetenversammlung in Solingen zur Lebensmittelversorgung: Anträge der kommunistischen Fraktion gegen die Versorgungsnot werden im Stadtparlament abgelehnt und eine Resolution des Oberbürgermeisters angenommen.

         Die Lebensmittelversorgung im Stadtparlament.
                                Allerhand Reden.      
Vor mehreren Wochen hatte die kommunistische Stadt-
verordnetenfraktion einen sorgfältig formulierten Antrag
mit ganz konkret gefaßten Vorschlägen der Stadtverwaltung
eingereicht. Wie unseren Lesern bekannt ist, blieb dieser
Antrag auf dem Rathaus liegen. Der Oberbürgermeister
war verreist und Herr Iserloh, sein Stellvertreter, hatte an-
scheinend keine Zeit, diese so ungeheuer dringende An-
gelegenheit auf die Tagesordnung einer Stadtverordneten-
versammlung zu bringen. Gestern fand nun endlich die
Stadtverordnetenversammlung statt. Als erster Punkt der
Tagesordnung wurde der kommunistische Antrag behandelt
zusammen mit einem Antrag der VSPD. die im letzten
Augenblick auch noch einen Antrag auf die Tagesordnung
gebracht hatte.
       Der kommunistische Antrag enthielt die folgenden Haupt-
punkte:
           1. Lebensmittelversorgung durch die Gemeinde in
               Verbindung mit den Konsumvereinen.
           2. Kartoffelbewirtschaftung.
           3. Brennstoffversorgung.
           4. Milchversorgung.
           5. Unterstützungsmaßnahmen.
           6. Erwerbslosenfürsorge.
       Zu diesen Hauptpunkten waren in dem kommunistischen
Antrag scharf umrissene Vorschläge gemacht.
       Genosse Wolf gab eine eingehende Begründung und be-
tonte, daß Form und Inhalt der kommunistischen Anträge
derart seien, daß sie von dem Kollegium einstimmig ange-
nommen werden müßten. Der Oberbürgermeister, als Wort-
führer der bürgerlich-sozial-demokratischen Mehrheit, war
allerdings einer anderen Meinung. Obwohl er inhaltlich
gegen die kommunistischen Anträge nichts einwenden konnte
und ausdrücklich feststellte, daß die Lebensmittelnot mit Recht
zu großer Erregung geführt hat, brachte er es doch fertig,
gegen die Annahme der Anträge zu sprechen. Der Tenor
seiner Rede war, alle Hoffnung auf „die Instanzen“ zu
setzen. Er schlug eine Resolution vor, in der in allgemein
gehaltenen Sätzen die Not festgestellt wird und von der Re-
gierung entsprechende Hilfsmaßnahmen erwartet werden.
       Eine Rede von wunderbarster Krausheit hielt der Stadt-
verordneten [sic!] Paul Schröder für die sozial-demokratische
Fraktion. Er meinte, daß die Hauptursache auf die Be-
satzung zurückzuführen sei (wobei er vergaß, daß auch im
unbesetzten Gebiet die Proleten genau so hungern und genau
dieselben hohen Preise zahlen müssen). Er machte viele
revolutionäre Phrasen über Schufte an den Börsen und
über das fluchwürdige kapitalistische System. Um in dem-
selben Atemzuge die Vertreter dieses kapitalistischen Systems
freundlichst zu bitten, doch so nett zu sein und den hungern-
den Arbeitern zu helfen. Er empfahl die Annahme der Reso-
lution des Oberbürgermeisters.
       Nach der Rede Schröders brauchten die Vertreter der
bürgerlichen Parteien nicht mehr viel zu sagen. Herr Paß
schloß sich Herrn Schröder und dem Vorsitzenden an und er-
mahnte nur noch die Bevölkerung zu größter „Ruhe und
Besonnenheit“. Jeder sah, daß zwischen dem Oberbürger-
meister, den bürgerlichen Parteien und der VSPD.-Fraktion
die Rollen sorgfältig verteilt waren. Die Sache war so auf-
fallend, daß Rudolf Bühler es für notwendig hielt, eine
Pause von 10 Minuten zu beantragen. Nach der Wieder-
eröffnung schlug Bühler vor, in die Resolution des Ober-
bürgermeisters noch einzufügen, daß von der Regierung die
„Sicherstellung der nötigen Mengen“ Kartoffeln erwartet
wird. (Die kommunistische Fraktion hatte Ablieferungs-
zwang gefordert.)
       Genosse Wolf erklärte für die kommunistische Fraktion,
daß die allgemein gehaltene Resolution des Oberbürger-
meisters neben den kommunistischen Anträgen angenommen
werden könne. Die kommunistischen Anträge aber müßten
in allererster Linie angenommen werden, weil darin ganz
konkrete Vorschläge gemacht würden.
       Gerade deshalb aber fanden diese Anträge bei der Mehr-
heit keine Gegenliebe. Der Oberbürgermeister erklärte klipp
und klar, daß die Regierung außerstande sei, die Groß-
agrarier zur Ablieferung zu zwingen. Damit stellte er offen
den großen Gegensatz zwischen den allgemeinen Sätzen seiner
Resolution und den Forderungen der kommunistischen Frak-
tion fest. Geschlossen stimmten denn auch die sozial-demo-
kratische Fraktion und alle bürgerlichen Fraktionen gegen die
kommunistischen Anträge. Darauf wurde die Resolution des
Oberbürgermeisters mit den Zusätzen Bühlers einstimmig
angenommen.
       Die gestrige Stadtverordnetensitzung hat wiederum ge-
zeigt, daß Sozial-Demokraten und Bürgerliche eine Gemein-
schaft bilden und sich mit möglichst viel Worten um eine klare
Stellungnahme herumzudrücken versuchen.
       Die Besprechung dieser Fragen dauerte bis ½7 Uhr.
Leider können wir mit Rücksicht auf die Papiernot und aus
technischen Gründen nicht ausführlicher über manche sehr
interessante Begebenheit berichten. Ein bezeichnender Vor-
fall sei aber doch bemerkt. Bühler fühlte sich gedrängt, nach
Ablehnung der kommunistischen Anträge und nach Annahme
der Oberbürgermeister-Resolution feierlich zu erklären, daß
er, falls die anderen Anträge abgelehnt worden wären, er
auch für die kommunistischen Anträge gestimmt haben würde.
Dieses späte Geständnis löste auf der Tribüne schallendes
Gelächter aus. Die anderen Punkte der Tagesordnung wur-
den nach der Vorlage ohne große Debatte angenommen.


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Stadtarchiv Solingen: RK (25. August 2023). 25. August 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 16. November 2025 von https://doi.org/10.58079/aesa


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