Quelle: Kreisarchiv Euskirchen, Unterhaltungsblatt und Anzeiger für den Kreis Schleiden und Umgegend (Amtliches Kreisblatt) vom 17. Februar 1923
Aufruf von Kardinal Schulte an die Landwirte im Rheinland
Kardinal Schulte an die Landwirte.
Kardinal Dr. Schulte erließ unter dem 10. Fe-
bruar folgende Kundgebung:
Die Notschreie die aus dem neubesetzten Gebiet
über Lebensmittelnot und völlig unzulängliche
Michlieferung an mein Ohr bringen, sind in den
letzten Tagen so zahlreich und so beängstigend ge-
worden, daß ich glaube aus dem diesjährigen
Fastenhirtenbrief meine herzliche Bitte an die land-
wirtschaftlichen Kreise an dieser Stelle wiederholen
zu müssen; „Sorgt ihr besonders, die ihr aus dem
Lande seinen Mangel an Lebensmitteln kennt,
ohne Säumen dafür, daß unser wiedergewonnener
Innerer Friede nicht an der immer drohenden
Lebensmittelnot scheitert. Sorgt vor allem, daß
durch schnelle ausreichende Milchlieferung das
Hinsterben und Hinsiechen so vieler tausend und
abertausend Säuglinge und Kranken in Großstadt
und Industriegebiet endlich wieder aufhört.“
Was für harte Zeiten müssen doch die im Okku-
pationsgebiet wohnenden Arbeiter- und Beamten-
familien durchmachen ! Welche Opfer haben nicht
schon so viele aufrechte und pflichtreue Männer
aus solchen Familien zum Teil mit ihren Frauen
und Kindern im Interesse unserer Heimat und zur
Abwehr der feindlichen Gewalt auf sich nehmen
müssen ! Diese opferfrohe Haltung kommt nicht
an letzter Stelle den noch auf friedlicher Scholle
wohnenden Landleuten zugute. In der christliche
Nächstenliebe der Landbewohner für ihre not-
leidenden Landsleute in Stadt und Industrie
niemals vergeblich, doch bis zum äußersten in
der Belieferung von Lebensmitteln und besonders
von Milch sich anzustrengen um Hunger und Not,
Krankheit und Sterben von den feindlich besetzten
Gegenden fernzuhalten. Aus den Kreisen ein-
sichtiger und opferwilliger Landwirte erfahre ich;
daß insbesondere noch bedeutend mehr Vollmilch;
die ja unsern Kindern vor allem nottut, abge-
liefert werden könnte, wenn man mit der Be-
reitung von Butter sich bis aufs allernotwendigste
einschränken würde. Dieselben Gewährsmänner
versichern mir, daß, auch bei solcher Einschränkung
die Lebenserhaltung auf dem Lande noch ungleich
reichlicher und gesünder bleiben würde als in Stadt
und Industrie. Mit großer Genugtuung darf ich
zum Lobe der Landbevölkerung, besonders auch
des unbesetzten Gebietes, hervorheben daß Sie in
erfreulicher Hilfsbereitschaft sich aufs neue gewillt
zeigt, unterernährte Stadt- und Industriekinder
in Pflege zu Nehmen. Erst gestern noch erhielt
ich von einer führenden kirchlichen Stelle in Bayern
einen Brief, worin es heißt:“ Wir sind im Geiste
und mit dem Herzen alle an Rhein und Ruhr.
Dieser Tage geht ein Aufruf hinaus, daß überall
gesammlet werde für die Notstände im besetzten
Gebiet und daß Plätze bereitgestellt werden zur
Unterbringung von Kinden. Unsere Brüder am
Rhein und an der Ruhr sollen die Opfer fürs
Vaterland nicht allein tragen müssen. Wir wollen
einmal sehen, wer stärker ist, der Haß oder die
Liebe“ Das ist die allein richtige Gesinnung, die
uns alle in der neuen Not des Vaterlandes und
des Volkes erfüllen muß. Möge die praktische
Christliche Nächstenliebe, die gerade in den Tagen
der Armut und Entbehrung wahre Wunder wirkt,
über den Haß, der die Völker entzweit und ins
Elend stürzt einen herrlichen Sieg davontragen!
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Kreisarchiv Euskirchen (17. Februar 2023). 17. Februar 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 14. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/aeol