9. August 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 9. August 1923

In Solingen besteht ein großer Mangel an Lebensmitteln, Waren, Bargeld und Kaufkraft. Eine von Oberbürgermeister Dicke einberufene Sitzung berät über die Verbesserung der Versorgungslage.

                               Aus Stadt und Umgegend.
                                                                            Solingen, 8. Aug[ust]
                     Der große Warenmangel in Solingen.

       Mit den Schwierigkeiten in der Versorgung der Bevölkerung
mit Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen beschäftigte sich
heute vormittag eine vom Oberbürgermeister einberufene gemein-
schaftliche Sitzung der Lebensmittelkommission, Preisprüfungs-
stelle und des Ausschusses der Preisprüfungsstelle.
       In einer sachlichen, eingehenden Aussprache konnte man fest-
stellen, daß die Not der Bevölkerung eine recht große ist. In
erster Linie ist dies auf den wirtschaftlichen Niedergang und die
Entwertung der deutschen Mark zurückzuführen, unter denen
sowohl die Geschäftsleute wie auch die Verbraucher stark leiden.
Allseitig erklärte man sich bereit, an einer Milderung der Not
mitzuarbeiten. Näheres über die Verhandlungen geht aus der
nachstehenden Aussprache hervor.
       Oberbürgermeister Dicke, der die Sitzung leitete, betonte
eingangs, daß bei der Stadtverwaltung vielfach Beschwerden ein-
gelaufen seien, daß die Geschäfte zum Teil den ganzen Tag
geschlossen seien. Hierdurch sei der Bürgerschaft die Möglichkeit
genommen, die notwendigsten Bedarfsartikel zu kaufen. Diese
Schwierigkeiten zeigen sich in fast allen Städten Deutschlands.
Es darf aber nichts unversucht bleiben, um einen annehmbaren
Ausweg aus den unliebsamen Verhältnissen zu finden.
       Herr Dahl (Lebensmittelhandel) erklärte, daß die Schwierig-
keiten im Einzelhandel zu derartigen Maßnahmen zwingen. Der
große Warenhunger eines Teils des Publikums veranlaßt einen
Ausverkauf der vorhandenen Ware. Die wahnsinnige Ham-
sterei besonders in Lebensmitteln muß zum Verhängnis führen.
Der einzige Ausweg ist, daß sowohl von seiten der Presse, wie
auch der Gewerkschaften auf die Bevölkerung eingewirkt wird,
damit dieses sinnlose Masseneinkaufen vermieden wird. Eine
Verkaufszeit von 6 Stunden täglich müßte genügen, um den Be-
dürfnissen zu entsprechen.
       Herr Gräfingholt (Gewerkschaften) führt als Haupt-
ursache der Hamsterkäufe die große Geldentwertung ins Feld.
Der Arbeiter und Angestellte ist gezwungen, das Geld, was
er hat, sofort anzulegen, wenn es nicht ganz entwerten soll. Einen
Teil der Schuld tragen aber die Geschäftsleute selbst, die Waren
zurückhalten. Nicht gegen den reellen Handel richtet sich die Er-
bitterung der Arbeiterschaft, sondern gegen die Leute, welche die
Abgabe vorhandener Waren verweigern. Es muß den Leuten
Gelegenheit gegeben werden, ihre Einkäufe zu tätigen.
       Herr Sobotki (Angestellten) macht auf einige Einzelfälle
aus der Praxis aufmerksam und wünscht Auskunft, ob es dem
Lebensmittelhandel überhaupt möglich ist, auf absehbare Zeit die
Bevölkerung zu versorgen.
       Beigeordneter Schaal. Das ganze Elend ist auf den Fall
der Mark zurückzuführen. Heute schon wird für Inlandwaren
der Auslandwert verlangt. Die Bauern verlangen zum Teil
Sachwerte für ihre Waren. Die schwachen Mittel der Stadt
genügen nicht, um der Not zu steuern. Die Verwaltung hat
bisher getan, was in ihren Kräften steht. Notwendig sind aber
dazu Devisen, und deren Beschaffung ist sehr schwer. Die Stadt
kann im Notfalle dem Handel Kredite gewähren. Dies ist das
einzige, was von der Verwaltung gemacht werden kann. Na-
türlich ist die Stadt auch bemüht, selbst Lebensmittel zu kaufen.
Speck und Gemüsekonserven mit Speck sind gekauft und werden
im Notfalle an die Bevölkerung abgegeben werden. Kartoffeln
sind ebenfalls gekauft und werden bald eintreffen.
       Herr Flesche (Gewerkschaften) tritt dafür ein, daß die
Geschäfte möglichst lange offen halten. Ein großer Teil der ar-
beitenden Bevölkerung ist nicht in der Lage, in den vorgesehenen
Geschäftsstunden die Waren einzukaufen. Auf dem heutigen
Wochenmarkte lagerten große Mengen Kartoffeln, die von Ge-
schäften in der Stadt gekauft wurden, aber bis eben noch nicht
abgeholt waren. Dadurch wird die Bevölkerung erregt und ver-
langt die Abgabe der lagernden Waren. Die Hauptbedingung ist,
daß die Bevölkerung genügend Zeit zum Einkauf der Waren
hat.
       Herr Isaack (Einzelhandel): Der Beschluß, den Verkauf auf
Einzelstunden festzusetzen, lag im Interesse des Publikums. Die
vorhandenen Warenvorräte sind so gering, daß zwei Stunden
täglich genügen, um sie zu verkaufen. Man muß also rationie-
ren, um einen gewissen Ausgleich zu schaffen. Die gesamten
Textilwaren kommen aus dem unbesetzten Gebiet.
       Herr Röhrig (Großhandel) erwidert auf die Anfrage von
Sobotki, daß die Möglichkeit besteht, genügend Lebensmittel her-
einzubekommen. Es ist dem Großhandel aber nicht möglich, die
erforderlichen Mittel aufzubringen. Die Schwierigkeit liegt in
erster Linie in der Devisenbeschaffung.
       Herr Schmidt (Gewerkschaften) sieht die traurigen Ver-
hältnisse als Folgen der privatkapitalistischen Wirtschaft an. Ra-
tionierung und eine einheitliche Verkaufszeit sind Grundbedin-
gungen für eine Besserung der Lage. Läger, die noch vorhanden
sind, dürfen nicht zurückgehalten werden.
       Herr Sobotki wendet sich gegen die von vielen Arbeit-
gebern ausgestellten Lohnschecks, die kein Mittel sind, die Geld-
not zu vermeiden, dagegen große Verwirrung hervorrufen. Die
Geschäftsleute sind meist nicht in der Lage, das geforderte Klein-
geld auf die Schecks herauszugeben.
       Herr Jost (Metzger) betont, daß die Metzger es ablehnen,
derartige Schecks überhaupt noch anzunehmen. Der Redner
schildert weiter die schwierige Beschaffung von Vieh und die Zu-
stände auf dem Viehmarkt. Er spricht die Befürchtung aus, daß
in wenigen Wochen eine ganze Anzahl Metzger nicht mehr in
der Lage sind, überhaupt Vieh zu kaufen. Schon jetzt geschieht
es häufig, daß mehrere Metzger gemeinsam ein Stück Vieh kau-
fen müssen.
       Herr Palm (Preisprüfungsstelle) sieht in der sinnlosen Pa-
piergeldwirtschaft den nahenden Zusammenbruch. Er weist auf
die Devisenhamsterei hin und erklärt, daß der einzige Ausweg
für die notleidende Bevölkerung darin liege, den Fabrikanten
die Devisen aus den Geldschränken zu holen.
       Herr Isaack befürchtet, daß als Folge der Warenknapp-
heit ein Teil der Detaillisten schon in nächster Zeit die Rhein-
Ruhrhilfe in Anspruch nehmen muß.
       Oberbürgermeister Dicke erklärt, daß die Stadtverwaltung,
soweit es möglich sei, durch Kredite bei der Lebensmittelbeschaf-
fung behilflich sein werde. Er bittet, etwaige Anträge an den
Beigeordneten Schaal zu richten und regt eine endgültige Beschluß-
fassung über die Verkaufszeiten der Geschäfte an.
       Nach einer Aussprache, in welcher die anwesenden Geschäfts-
leute die Bedenken über eine praktische Durchführung einer fest-
gesetzten Verkaufszeit zum Ausdruck brachten, wurde beschlossen,
die Geschäftsstunden der einzelnen Branchen wie folgt festzu-
setzen:
       Textil-, Schuhwaren- und Haushaltsartikel von 3-7 Uhr.
Außerdem einige Stunden an Samstagvormittagen. Lebens-
mittel vormittags von 10-1 Uhr und nachmittags von 4-7 Uhr.
Gemüsegeschäfte vormittags von 9-1 Uhr und nachmittags von
3-7 Uhr.                                                                                        Sch.
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Stadtarchiv Solingen: RK (9. August 2023). 9. August 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 15. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/aeic


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