15. Januar 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 15. Januar 1923

Die Einschätzung zur Arbeitsmarktlage des Rheinlands steht unter dem Eindruck der Besetzung des Ruhrgebiets am 11. Januar 1923 durch französisches und belgisches Militär und des von Reichskanzler Wilhelm Cuno verkündeten „passiven Widerstands“ gegen die Besatzungstruppen. Zu diesem Widerstand gehört, dass jegliche Zusammenarbeit mit den Besatzern verweigert werden soll. Die rheinische Wirtschaft hat zu diesem Zeitpunkt eine große Bedeutung für Deutschland insgesamt. Der im Artikel erwähnte „Achtstundentag“ wurde mit der Arbeitszeitverordnung vom November 1918 eingeführt. Diese Arbeitszeitregelung (acht Stunden als Normalarbeitszeit) bedeutete eine der wichtigsten sozialen Errungenschaft der Arbeiterbewegung gegenüber den Unternehmerverbänden. Noch vor dem Ende des Krisenjahres 1923 werden die Vorgaben des „Achtstundentags“ durch eine neue Verordnung wieder aufgeweicht. 

                                      Wirtschaftlicher Teil.
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                       Ruhrbesetzung und Arbeitsmarkt.
       * Ueber den Arbeitsmarkt in der Woche vom 16. bis 21. Ja-
nuar meldet das Landesarbeitsamt der Rheinpro-
vinz:
       Die Entwicklung des Arbeitsmarktes blieb auf der abstei-
gende [sic!] Linie. Es erübrigt sich heute, die oft genug dar-
gelegten Dinge zu wiederholen. Immer deutlicher ist zu er-
kennen, daß es sich nicht um Konjunkturwandlungen im gewöhn-
lichen Sinne handelt, sondern um eine fortschreitende
Entkräftung, die in der Geschichte der modernen Wirt-
schaft keine Parallele hat. Man muß zurückgehen in die Zeiten
des alten römischen Imperiums, um einen Vergleich zu finden.
Die Wirtschaft der reichen Kolonien Sizilien und Asien wurde
durch Abgaben, die ihre Leistungsfähigkeit weit überstiegen, auf
Jahrhunderte entkräftet und gelähmt. Der Dezember, ein Mo-
nat der Erwartungen und Hoffnungen, brachte eine gewisse
Hemmung in die rückläufige Bewegung. Die Mark hielt sich,
besserte sich sogar etwas, der Großhandelsindex ging leicht zu-
rück, die Besserung des Arbeitsmarktes der Eisen- und Metall-
industrie war unverkennbar. Wie man sieht, genügten bereits
Strohhalme, die schnell zerplatzte Seifenblase der amerikanischen
Einmischung, um das Vertrauen zu beleben. Heute hat der
Dollar 10 000 Mark überschritten, und die Arbeitsnachweise mel-
den verstärkte Unsicherheit und Zurückhaltung in zahlreichen
Gewerben. Von allen Seiten wird die Unübersichtlich-
keit der Lage betont und darauf hingewiesen, daß Störun-
gen des Arbeitsmarktes in der nächsten Zeit schwere Gefahren
bringen können. Erschütterungen des rheinischen Arbeitsmark-
tes durch Störungen in der Kohlenversorgung sollen durch fran-
zösische, belgische und italienische Ingenieure vermieden wer-
den. Das linksrheinische Gebiet soll ebenso behandelt werden,
wie die Länder der Entente und mit den vorgesehenen Kohlen-
mengen vollständig beliefert werden. Das neu besetzte Gebiet
soll ausreichend befriedigt werden. Auf die Unterschiede des
Ausdrucks der Vorschriften für die Behandlung der verschiedenen
Gebiete kann hier nicht eingegangen werden. Es sei nur darauf
hingewiesen, daß das Rheinland eine ungenügende Belieferung
des unbesetzten Deutschland als seine Sache ansieht und es ab-
lehnt, aus einer Verschärfung der Kohlennot und Verschlechterung
des Arbeitsmarktes im unbesetzten Deutschland Vorteile zu
ziehen. Und wenn die weiterverarbeitende Industrie im un-
besetzten Deutschland wegen Kohlenmangels feiern muß und
keine rheinischen Rohmaterialien und Halbfabrikate mehr be-
ziehen kann, dann rauchen die rheinischen Schlote nicht mehr,
und wenn die größten Kohlenberge vor den Kesseln und Oefen
liegen. Ferner sollen Erschütterungen des rheinischen Arbeits-
marktes dadurch vermieden werden, daß die soziale und Ar-
beitergesetzgebung in Kraft und der Achtstundentag grundsätz-
lich bestehen bleibt. Wir wissen heute mehr als je, daß die
sozialen Gesetze auf dem Papier stehen, wenn sie nicht auf dem
Fundament einer kräftigen, blühenden Wirtschaft ruhen. Wir
erleben es täglich, daß die Leistungen der Sozialversicherung
ziffernmäßig in die Höhe gehen, aber an der Kaufkraft gemessen,
schnell sinken. Der rheinische Arbeitsmarkt ist der Arbeitsmarkt
der deutschen Schlüsselindustrien und durch Tausende von Fä-
den und Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt des unbesetzten
Deutschland auf das engste organisch verbunden. Der eine kann
nicht blühen, wenn der andere welkt.
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Stadtarchiv Solingen: RK (15. Januar 2023). 15. Januar 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 8. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/ae1e